„Danke“, sagte er nur.
Der Mann aus dem Dorf warf einen Blick auf die Ladefläche des Wagens.
„Was bewegt sich denn da?“
Kurt Bremer folgte seinem Blick. In dem Moment kam eine große Schiebermütze unter der grauen Plane hervor. Er lächelte kaum merklich.
„Das ist mein Sohn Heinrich.“
„Wie alt ist denn der junge Mann?“
„Zwölf.“
Kurt Bremer war von der langen Fahrt erschöpft und beschränkte sich auf eine kurze Antwort.
„Ich suche den Hof von Fritz Heckner“, erklärte er dem Dorfbewohner.
„Da müssen Sie hier links runter“, bekam er zur Antwort, „es ist der letzte Hof auf der linken Seite. Gegenüber den Insthäusern.“
Kurt Bremer hob die Hand zum Dank und stieg wieder auf seinen Wagen. Er schnalzte mit der Zunge, und der Kaltblüter setzte sich in Bewegung.
Bald konnte er den Eingang zum Hof erkennen. Ein grünes schmiedeeisernes Eingangstor, das von zwei Backsteinpfosten gehalten wurde, zeigte dem Besucher sogleich, wer hier das Sagen hatte. Auf dem linken Torflügel prangte ein großes, geschwungenes F, auf dem rechten ein H. Ein kräftiger schwarzer Hofhund, der die Fremden bereits lange bemerkt zu haben schien, denn er lief nervös vor dem Tor hin und her, schlug nun lautstark an. Der Lärm des Hundes rief unvermittelt einen etwa sechzigjährigen Mann in dunkelgrauer Arbeitskleidung auf den Plan. „Arko! Sei still!“
Der Hund sah ihn fragend an und trottete dann davon.
„Wohin wollen Sie?“
Der Hofbewohner sah Kurt Bremer nun eher freundlich als misstrauisch an. Dieser deutete wieder ein Lächeln an.
„Ich soll mich hier als Landarbeiter melden. Mein Name ist Kurt Bremer.“
„Warten Sie einen Moment, ich bin gleich zurück.“
Der ältere Mann ging nach rechts und betrat das Herrenhaus. Bremer betrachtete das Gebäude, in dem der Mann verschwunden war. Es musste mehrere hundert Jahre alt sein, war jedoch in einem sehr gepflegten Zustand. Es war verputzt und in einer Mischung aus hellem Beige und Gelb gestrichen. Die Dachziegel waren rostrot und glänzten vom Regen. Im Erdgeschoss nahm er die Haustür aus dunklem Holz wahr, deren Verglasung durch ein grün lackiertes Gitter geschützt wurde. Auch darin hatte ein Kunstschmied die Initialen des Gutsherren eingearbeitet. Links von der Haustür befand sich ein hölzerner Windfang mit einer weiteren Tür. Kurt Bremer konnte Essensdüfte riechen, die aus dem Windfang kamen. Das musste die Gutsküche sein. Der gesamte Hof machte den Eindruck, dass hier ein wohlhabender Grundbesitzer lebte. Auf dem Gelände standen mindestens zehn in einem eckigen Hufeisen angeordnete, teilweise zusammenhängende Gebäude. Kurt Bremer war beeindruckt. Noch nie hatte er auf einem so großen Gut gearbeitet. Die Insthäuser, wie die kleinen Landarbeiterhäuser genannt wurden, gehörten sicher auch dazu. Ob er mit Heinrich in einem dieser Häuser wohnen würde? Er sah sich weiter um. Die Gebäude, die sich an das Herrenhaus anschlossen, waren offenbar die Stallungen und die Scheunen. Auf der linken Seite des Hofes bemerkte Kurt Bremer ein weiteres, nicht ganz so großes, aber nicht weniger gepflegtes Wohnhaus. Auf dem letzten Hof, auf dem er vor dem Krieg als Knecht gearbeitet hatte, war ein ähnliches Haus gewesen. Darin hatten die Eltern des Hofbesitzers gewohnt. Kurt Bremer vermutete, dass es sich auch hier um so etwas wie ein Altenteil handelte.
Der Hofbedienstete kam zurück und öffnete das Tor. „Führen Sie den Wagen auf den Hof! Hinten links ist der Pferdestall, dort können Sie Ihren Gaul unterstellen und ihn mit Futter und Wasser versorgen. Den Wagen lassen Sie erstmal da unter dem Walnussbaum stehen, um den kümmert sich nachher ein Helfer. Ich bin in einer halben Stunde wieder da, dann zeige ich Ihnen, wo Sie wohnen werden. Sind Sie allein?“
Bremer schüttelte den Kopf. „Mein Sohn Heinrich ist bei mir.“
Er deutete nach hinten auf die Ladefläche, wo sein Junge inzwischen aufgestanden war und gerade herunterspringen wollte.
„Nun, dann mal herzlich willkommen! Wir können jede helfende Hand gebrauchen. Viele unserer Arbeiter sind in den Krieg gezogen und nicht mehr zurückgekehrt. Wie ich sehe, haben Sie Glück gehabt.“ Der Mann deutete auf Bremers Narbe. Dieser nickte nur bestätigend.
„Ich heiße übrigens August Joost. Aber alle hier nennen mich nur Gustl. Ich bin der Großknecht und werde sozusagen Ihr Vorarbeiter sein.“
Kurt Bremer lüftete seine alte Feldmütze zum Gruß, packte dann die Zügel seines Pferdes und zog es auf den Hof, gefolgt von seinem Sohn. Während er das Tier in Richtung Stall lenkte, bemerkte er neben der Haustür des Altenteils einen Jungen, der einige Jahre älter zu sein schien als Heinrich. Er war groß und recht gut gekleidet, was Bremer vermuten ließ, dass es sich um den Sohn des Gutsherren handelte. Er sah Heinrich an.
„Der Junge da ist sicher der Sohn der Herrschaft. Mit dem musst du dich gut stellen.“
Heinrich zuckte die Schultern, riskierte aber dann doch einen Blick zu dem Jungen. Kurt Bremer bemerkte, dass dieser seinen Sohn von oben bis unten musterte und dann spöttisch grinste. Verunsichert sah Heinrich seinen Vater an. Kurt Bremer zuckte die Schultern und begann, das Pferd abzuschirren.
„Komm schon, hilf mir! Der Gutsherr wartet nicht ewig auf uns.“
Heinrich nahm seinem Vater das Halsgeschirr aus der Hand, legte es auf den Wagen und breitete die Plane darüber aus, um das Leder vor dem Nieselregen zu schützen. Kurt Bremer führte das Tier in den Stall und versorgte es mit Heu und Wasser. Er rieb es trocken, um es bei dem feuchtkalten Wetter vor Verkühlungen zu schützen. Dann warf er ihm eine Wolldecke über und ging wieder zum Ausgang. Er wollte gerade hinaustreten, als er den Jungen von vorher dabei beobachtete, wie er seinem Sohn auf den Rücken schlug.
„Na, du Hänfling?“, sagte er, „du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du und dein narbengesichtiger Vater uns bei der Hofarbeit helfen wollt! Ihr brecht doch schon zusammen, wenn ihr einen Grashalm gepflückt habt.“
Dabei lächelte er kalt und versetzte Heinrich mit den ausgestreckten Fingern seiner rechten Hand einen so kräftigen Stoß unters Schlüsselbein, dass dieser aufjaulte. Kurt Bremer trat aus dem Stall und sah den Jungen an. Doch dieser schien sich davon nicht gestört zu fühlen.
„Rüdiger! Komm rein, es gibt Kaffee!“, rief eine Frauenstimme aus dem Herrenhaus. Erleichtert nahm Bremer wahr, dass der Junge gemeint war, denn der rannte, ohne sich noch einmal umzudrehen, über den Hof zum Eingang des Gutshauses. Kurt Bremer seufzte. Sein Sohn würde auf diesem Hof kein einfaches Leben haben, das ahnte er. Sehnsüchtig dachte er an die Zeit zurück, als seine Frau noch gelebt hatte. Drei Jahre war es nun her, dass er aus dem Krieg zurückgekehrt war. Er war schwer verwundet worden. Aber die Familie war wieder beieinander, das allein zählte. Es dauerte nicht lange, bis sich ein Geschwisterchen für Heinrich ankündigte. Alle freuten sich auf die Ankunft des neuen Familienmitgliedes, doch wenige Tage nach der Geburt seiner kleinen Tochter Gerda starb ihre Mutter im Kindbett. Auch der Säugling überlebte nicht, und so blieben Kurt Bremer und sein Sohn allein zurück. Der Verlust seiner Frau und seiner Tochter hatte aus ihm einen gebrochenen, schweigsamen Mann gemacht. Jeden Tag vermisste er Hedwig und Gerda mehr. Manchmal wusste er nicht, wie es weitergehen sollte. Er musste sich und seinen Sohn ernähren. So hatte er begonnen, sich als Landarbeiter zu verdingen, weil er Heinrich auf diese Weise in seiner Nähe haben konnte. Er hatte bisher mit seinen Herrschaften Glück gehabt, jedoch konnte er sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal gelacht hatte.
Kurt Bremer war müde von der Kutschfahrt, aber er musste noch durchhalten. Gustl Joost war inzwischen aus dem Herrenhaus gekommen und wartete bereits am Eingangstor. Kurt Bremer legte seinem Sohn den Arm um die Schulter. Joost führte sie zu einem der Insthäuser und schloss die Tür auf.
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