Nun ist er dreiundzwanzig und Vater zweier Kinder. Vor ihm auf dem Sattel sitzt sein vierjähriger Sohn. Er ist blond und heißt Hans. Nach einer halben Stunde wird er unruhig werden, während dem Ritt um den Vater herumkrabbeln und sich nach hinten setzen. Hans musste nicht mit, er wollte. Wo der Vater ist, ist auch sein Sohn. Keiner versteht die Anhänglichkeit. Josef bemüht sich nicht einmal besonders um den Kleinen. Wally, seine Frau, fühlt sich vom eigenen vierjährigen Kind zurückgesetzt und verschmäht. Ist auf ihren Mann eifersüchtig. Deswegen gab es schon einige unschöne Momente, die der Kleine aber unmöglich verstehen konnte.
Josef und die gleichaltrige Wally haben früh angefangen sich zu entdecken. In der Phase, in der Jugendliche verschiedene Partner ausprobieren, bevor sie sich für einen endgültigen entscheiden, ist Wally schwanger geworden. Deshalb gibt es Hans‘ sechsjährige Schwester Mona. Sie gaben sich gegenseitig die Schuld nicht aufgepasst zu haben. „Das kommt davon, wenn man es zweimal hintereinander treibt“, sagte seine Mutter „und das Waschen vergisst. Die Spermien lauerten noch vom ersten Mal unter der Vorhaut.“ Josef wollte Wally mit ihrer Leibesfrucht aber nicht alleine lassen, hat sich zu ihr bekannt und mit ihr ein frisch renoviertes Haus bezogen. Es ist zwar nicht die große Liebe, aber sie kommen miteinander aus.
Hans lacht gerne, findet alles witzig und spaßig. Wenn sein Gesicht aufleuchtet, entwaffnet er jeden schlechtgelaunten Erwachsenen. Er kann sich sehr gut selber beschäftigen. Während sein Vater arbeitet, spielt er in seinem Zimmer stundenlang mit einem Berg Bauklötzchen, oder im Freigehege mit den Kaninchen und Meerschweinchen. Versunken in fernen Welten schaut er bei Störung wie aus Träumen gerissen um sich, bevor seine Mundwinkel wieder nach oben gehen und er seinen Charme versprüht, um den Störer zu gewinnen. Kann man in diesem Alter schon den Charme anknipsen wie man ihn gerade braucht? fragt sich Josef manchmal. Kann man mit vier Jahren schon so berechnend sein? Sein eigener Sohn ist ihm ein Rätsel.
Sie führen ein Packpferd mit, denn vor ihnen liegen ein paar freie Tage. Es sind Kindergartenferien. Das Packpferd trägt Verpflegung, Wasser, Wein, Schlafsäcke, Hafer, eine Axt und ein Gewehr. Josef hat keine Ahnung wie lange sie unterwegs sein werden, aber er will zu einem Schwarzwalddorf, in dem einige seiner Freunde manchmal ihren Urlaub verbringen. Der Weg, eigentlich ein breit ausgetretener Wildwechsel, ist gut zu erkennen. Er wurde diesen Sommer schon von anderen Reitern benutzt. Leider geht es stundenlang nur durch Unterholz. Er muss permanent aufpassen, dass er von den dünnen Zweigen keine Ohrfeigen bekommt. Wenn der Gaul sich am Geruch eines Raubtiers erschreckt und durchgeht, wird der Reiter nicht ohne rote Gesichtsstriemen davonkommen.
Raubtiere gibt es im Schwarzwald nicht wenige. Erst letzte Woche wurde am Waldrand ein Tiger gesichtet und vorletzte Woche in Dorf Nähe ein Puma erschossen. Natürlich bevölkern auch Wölfe und Braunbären den Wald. Aber alle vierbeinigen Jäger gehen den Menschen aus dem Weg, weil diese immer gleich überreagieren und laut werden. Noch nie in den letzten hundert Jahren wurde ein Mensch Opfer eines Raubtiers. Eines Rindes oder Pferdes schon. Aber noch nie hat ein Bär, Tiger, Leopard oder Puma einen Menschen auch nur verletzt. Wolfsrudel trauen sich nicht einmal an einzelne Menschen. Wenn Wölfe auf Zweibeiner stoßen, hören sie innerlich schon Schüsse. Man muss das Wild erziehen, damit es das macht, was man von ihm erwartet. Das einzige Opfer eines Raubtieres wurde vor langer Zeit ein Alkoholiker, der bei seinen Ziegen einen Leoparden überraschte. Der Mann bekam einen Herzinfarkt und starb, ohne dass die Katze ihn berührt hatte.
Auf eine Aussicht brauchen Vater und Sohn nicht zu hoffen. Im Schwarzwald gibt es nur dort offene Flächen, wo ein Orkan Bäume umgerissen hat. Und diese Flächen sind unpassierbar. Gleichförmig und langweilig geht der Ritt unter hohen Bäumen hindurch und durch Unterholz. Aber die zwei können sich jederzeit beschäftigen. Sie singen. Das hält die wilden Tiere auf Distanz. Zuerst singen sie die Lieder die beide kennen. Pferdehalfter und so. Und das Lied vom Ziegenmelker, der auch als Nachtschwalbe bezeichnet wird und lieber eine schöne Rauchschwalbe wäre, die in den Ställen nistet und tagsüber herumfliegt. Nachdem das Kinderrepertoire abgearbeitet ist, bringt Josef seinem Sohn neue Lieder bei.
Sie singen auch noch, während sie nach drei Stunden absatteln und an einem Bach eine Rast einlegen. Verscheuchen eine Hirschkuh mit Kalb. Die Rösser tun sich am Gebüsch gütlich, die Menschen an belegten Broten. Alle vier trinken vom Gewässer. Josef zeigt seinem Sohn diverse Pflanzen. Nach der Mahlzeit sucht Hans nach Insekten und fragt nach deren Namen. Dann geht es weiter berghoch. Josef redet und singt ohne Pause, damit bei dem gleichmäßigen Schaukeln der Kleine nicht einschläft. Er soll müde ankommen, denn Hans schläft wenig und Josef hat sich für die Nacht Lesestoff mitgenommen. Nach zwei weiteren Stunden kommen sie an den ersten Häusern von Ottoschwanden vorbei. Am niederen Bewuchs erkennt er, dass sie nun auf einer ehemaligen Asphaltstraße weiterreiten. Die Gegend hieß früher Freiamt und war offenes Hochland aus Feldern und Wiesen gewesen. Jetzt besteht alles aus unterschiedlich hohen Bäumen und unter und zwischen ihnen steht das Dorf.
Josef hat auch einen Auftrag. Im Namen von Grisslys ältester Tochter soll er nach ihrem Wochenendhaus schauen. Ob das Dach dicht ist, ein Bär oder andere Tiere im Haus waren. Von den Alten lebt nur noch Carlina. Grissly, Buran, Sigsig, Klara und Kim sind alle nach und nach verstorben.
Vater und Sohn gelangen auf die Hauptstraße. Josef fummelt aus der Kargotasche seiner Hose ein Stück dünne, elastische Birkenrinde heraus, auf die er sich Notizen gemacht hat. Sie lässt sich leserlicher beschriften als Leder. Papier ist selten und teuer. Das Haus ist leicht zu erkennen, es ist von Büschen, Efeu und anderen Kletterpflanzen befreit. Sie dürfen darin wohnen. Steigen ab, binden die Pferde an und gehen auf Besichtigungstour. Das Dach scheint dicht zu sein. Leider finden sie keine Tiere. Keine Marder, keine Vögel, keine Siebenschläfer, nicht einmal Fledermäuse. Das Packpferd wird abgeladen, die Lebensmittel und Schlafsäcke ins Wohnzimmer gebracht. Schlafen wollen sie in einem Doppelbett.
Die Pferde haben aber noch keinen Feierabend. Der Vater hilft seinem Sohn auf das Packpferd. Bevor die Sonne untergeht wollen sie noch eine Ortsbesichtigung machen. Sie reiten weiter berghoch, dorthin wo es noch hell ist, beschauen sich von den Pferderücken aus die Häuser, müssen sich oft tief bücken, um unter Ästen hindurch zu kommen.
„Die Leute hier oben müssen einmal schön gewohnt haben“, meint Hans.
„Die hatten aber alle keine Tiere. Oder hast du so etwas wie einen Stall gesehen?“
Hans schaut sich aufmerksam um. „Nur Garagen. Für Fahrzeuge.“
„Wir müssen noch einen Brunnen suchen, um die Pferde zu tränken“, mahnt der Vater. „In den Häusern gibt es leider kein fließendes Wasser.“
„Wieso hatten die Leute früher kein Wasser? Das war doch bestimmt umständlich so zu wohnen.“
„Die hatten alle Wasser. Die Leitung zum Dorf muss verstopft oder kaputt sein.“
Als sie am obersten und letzten Haus angekommen sind, dreht Josef um und macht sich auf die Wassersuche.
„Papa, was hängt denn dort für eine seltsame Stange auf dem Dach?“ fragt sein Kleiner.
Der Vater schaut zurück und sieht tatsächlich eine seltsame Stange, die an einem Draht befestigt auf dem Dach des letzten Haus liegt. Er schaut zur untergehenden Sonne.
„Wir schauen schnell rein“, entschließt er sich.
Die Pferde werden an den Resten eines Gartenzauns befestigt, die Zweibeiner gehen entschlossen zur Haustür. Sie ist unversehrt. Wo gibt es denn sowas. Eine verschlossene Haustür. Josef wird es heiß. Das könnte bedeuten, dass dieses Haus noch nie geplündert wurde. Dass sich darin Schätze verbergen. Noch nie hat er ein Haus betreten, in dem nicht schon viele vor ihm waren und mitgenommen hatten was zu gebrauchen war.
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