Bei der Preisverleihung kommt es zum Eklat. Das Kilo Mehl soll eine Joana bekommen, eine energische, kräftige und dunkelhaarige Frau, die sich zu wehren weiß. Als sie ihre Hände nach dem Kilo austreckt meint Grissly: „Nun wollen wir aber auch dein Rezept wissen.“
„Das war so nicht abgemacht“, behauptet sie. „Das ist mein Rezept und geht keinen was an.“
„Das war aber der Sinn des Wettbewerbs, damit sich alle köstliches Ersatzbrot backen können“, meint der Alte entrüstet.
„Das hättest du vorher bekannt machen sollen. Ich will doch nicht, dass nun alle mein Brot essen. Wer will das schon.“
Völlig betreten sucht Grisslys Blick Hilfe bei Carlina. Die Situation ist mehr als ärgerlich. Man kann der Frau schlecht den Preis vorenthalten, das würde sie und ihre Sippschaft gegen den Rat aufbringen. Vielleicht wäre es besser, an ihren Gemeinschaftssinn zu appellieren.
„Du willst tatsächlich das Rezept für dich behalten?“, tut Carlina erstaunt. „Schau dich doch mal um, wie erwartungsvoll dich alle anstarren. Du kannst ruhig großzügig sein und dein Wissen mit der Gemeinschaft teilen.“
„Tut mir furchtbar leid“, sagt Joana ungerührt, „aber ich will auch mal etwas, was andere nicht haben.“
Carlina versucht es nochmal. „Bislang ließ man an seinen Erfindungen alle teilhaben. Du weißt schon, dass wir immer füreinander arbeiten, damit es mit der Menschheit vorwärts geht. Wer Nutzen aus der Gemeinschaft zieht, muss auch liefern.“
„Sobald es wieder richtiges Brot gibt, verrate ich euch mein Geheimnis für die nächste Krise“, zischt sie, nimmt das Mehl und verlässt den Saal.
Bald darauf machen sich erste Fehlernährungen und Mangelerscheinungen bemerkbar. Viele Leute fühlen sich unwohl, schlapp, energie- und antriebslos. Gerade die Leute, die oft auf die überflüssigen Faulenzer im Hospital schimpfen, wobei sie nicht die Ärzte sondern die Krankenschwestern- und Pfleger meinen, benötigen zuerst Hilfe. Nicht wenige Bürger nehmen jetzt auch zu. Gewichtsprobleme gab es in der Vergangenheit bislang nicht, denn jeder geht einer körperlichen Tätigkeit nach. Und die Schüler klagen über Konzentrationsmangel. Die Ärzte verabreichen selbst hergestellte Vitamin- und Mineraltabletten, die auch helfen. Leider ist der Vorrat schnell erschöpf, die Herstellung neuer Tabletten ist aufwändig und langwierig. Deshalb bekommen die Patienten eine Ernährungsberatung, doch das Dilemma bleibt. Kim berät sich mit Carlina.
„Das Volk ist für eine ausgewogene Ernährung zu bequem“, stellt diese fest. „Da müssen wir einmal Tacheles reden.“ Der Rat bittet zur Vollversammlung.
Nachdem allgemeine Themen abgehandelt sind, erhebt sich die größte aller Frauen. „Viele bilden sich ein, wir hätten ein Ernährungsproblem, weil es kein Mehl mehr gibt. Dem ist aber nicht so. Angebliche Mangelerscheinungen gibt es nur, weil ihr nicht alle Ressourcen ausschöpft. Als Frühstück immer Wurst, Käse und Eier, ist einfach zu ungesund. Ihr habt für den Winter Obst eingemacht und getrocknet, das reicht als Frühstück. Nachmittags esst ihr ja Fleisch. Meistens mit irgendeinem Kohl und Kartoffeln, oder Bohnen, Erbsen, Linsen. Wie wäre es mal mit Zwiebeln oder Lauch. Oder eingelegten Zucchini, Paprika und Auberginen. Ihr alle esst auch viel zu wenige Rüben, egal welche. Roh, gekocht, als Püree können sie getrost ohne Fleisch gegessen werden.
Und auch abends geht es nicht ohne Wurst und Käse. Wir haben hier jede Menge Gewässer. Ihr müsst auch Fische, Muscheln und Krebse essen. Jede Familie sollte für ein abwechslungsreiches Essen sorgen. Da darf man nicht bequem sein. Es gibt Familien, die essen unter der Woche nur Schweinefleisch und Sauerkraut. Diese Eintönigkeit muss ja krank machen. Nur Vielfalt hält gesund. Und vergesst nicht das eingemachte Obst und die Beeren zu verzerren. Esst was ihr kriegen könnt, aber wenig Fett aus Fleisch, Käse und Eiern. Trinkt Säfte. Wir haben alles was wir brauchen um gesund zu bleiben.“
Der Winter ist kälter als in den Vorjahren. Im Januar gibt es eine richtig kalte Woche mit minus elf Grad. Das müsste die Sporen killen.
Kurz vor der Aussaat kommen italienische Händler nach Zoratom. Vor der Kirche bauen sie einen Stand auf und beginnen, auf einem mitgebrachten Holz- Herd, in zwei Töpfen zu kochen. Das Publikum lässt nicht lange auf sich warten. Es gibt einen Haken. Die drei Händler haben von deutscher Sprache keine Ahnung. Einer spricht französisch, Carlina wird gesucht. Sie, Kim, Richard und einige andere, hatten sich den Spaß gemacht eine Fremdsprache zu lernen. Da Frankreich in greifbarer Nähe liegt, kam nichts anderes in Frage. Auch, um sich mit den Franzosen beim AKW Fessenheim unterhalten zu können. Man will schließlich wissen, wie es um dieses Erbe der Menschheit bestellt ist. Italien und England sind einfach zu weit weg. Nach einer Weile kommt sie auf einem Fahrrad Marke Eigenbau angebraust. Stellt es ab und sich vor die Italiener. Das Dauergrinsen der Händler verschwindet. Vermutlich sind sie plötzlich innerlich geschrumpft und fühlen sich nur halb so groß, wie Carlina vor ihnen steht.
„Was habt ihr uns denn Gutes mitgebracht?“, beginnt sie das Gespräch.
Als sie das Französisch vernehmen, wird einer der Drei sofort wieder lebendig. „Wir haben von euren Problemen mit dem Weizen gehört. Deshalb haben wir euch eine Alternative mitgebracht, die in unserer Heimat gedeiht. Wir nennen es Riso. Wir haben euch, zum Probieren, einen Topf voll gekocht. Mit Soße schmeckt der Riso am besten. Gleich ist die Soße fertig.“
Carlina übersetzt. Niemand, auch sie nicht, hat jemals von Riso gehört. Der Sprecher hebt einen Deckel, holt mit einem großen Holzlöffel schneeweiße Körner aus dem Topf. Weiße Körner sind in Zoratom gänzlich unbekannt. Pustend kühlt er die Körner. Hält Carlina den Löffel hin. Sie probiert. Der Riso schmeckt fremd. Total fremd. Und fade. Weit entfernt von allen jemals hier angebauten Getreiden. Viele andere probieren auch, verziehen das Gesicht. Dann taucht der Mann den Löffel in den zweiten Topf, holt rote Soße heraus. Auf die gibt er mit einer Gabel Risokörner und lässt Carlina wieder probieren. Es schmeckt sehr würzig, fast scharf, aber nicht unangenehm.
„Ihr könnt den Riso anbauen wie euer Getreide. Der Pilz wird ihm aber nichts anhaben“, versucht der Händler sein Produkt anzupreisen.
„Du hast unser Problem nicht erkannt“, antwortet sie. „Dein Riso wird uns vielleicht Abwechslung verschaffen und satt machen. Leider kann man mit ihm unser geliebtes Brot und unsere leckere Nudeln nicht herstellen, weil er ganz anders schmeckt. Was soll das Kilo denn kosten?“
Der verlangte Preis ist einer einzigartigen Delikatesse würdig.
Grissly kommt vorbei. Schaut in den Topf. Sagt: „Tatsächlich. Reis.“
„Du kennst das Zeug?“ fragt Carlina verwundert, weil er etwas kennt was sie nicht kennt.
„In Papas Vorratskammer habe ich, als ich klein war, zwei, drei Tüten davon gefunden. Mit Fisch zusammen schmeckt er am besten.“
Es kommen noch einige leidenschaftliche Köchinnen und Köche vorbei, die den Reis aus Büchern kennen. Alle probieren, halten das Zeug für essbar, winken aber sofort ab, als sie den Preis hören.
„Habt ihr eigentlich eine Ahnung was es bedeutet von Italien über die Alpen hierher zu reisen?“, verteidigt sich der Händler. „Diese Mühen machen den Reis so teuer.“
„Für ein Kilo Reis biete ich dir einen halben Liter Kirschwasser. Beste Qualität“, muss Carlina für Grissly übersetzen.
„Er will fünf Liter für ein Kilo“, gibt sie zurück.
„Verlange doch gleich ein Kilo Gold“, sagt Grissly hämisch. „Ich biete einen Liter. Ein Liter Schnaps für einen Kilo Reis ist unverschämt genug. Sonst könnt ihr ohne Verkauf weiterfahren.“
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