Bevor die Nacht hereinbricht, ist die Schinderei beendet. Alle Beteiligte schauen, mit dem Gefühl außerordentliches geleistet zu haben, zufrieden auf den schwarzen Berg, unter dem das Getreide hoffentlich Sporengeschützt lagert.
Der Verzicht auf Körner macht sich bei den Tieren zuerst bemerkbar. Die Pferde sind ab dem ersten Tag unzufrieden und bockig. Verweigern manchmal die Arbeit. Wer hat, nimmt nun lieber einen Esel und lässt sein Ross einige Tage im Stall schmollen. Die Hühner picken nach den Beinen, die ihnen das Futter bringen und fordern mehr. Unbestritten schmecken die Eier nun anders. Und es werden weniger. Allerdings gewöhnen sich die Tiere schneller an die Umstellung, als die Menschen.
Jede Familie geht mit dem Mangel anders um. Einige ziehen sofort mit Wagen los und besorgen sich im Umland Weizen oder Mehl, bevor es andere tun. Andere nehmen es gelassen, lassen sich allerhand Brotersatz einfallen, wollen für fremdes Getreide nichts opfern. Die Tüftler denken sich neue Mischungen aus, die sie wie Brot in die Röhre schieben. Begehrt sind jetzt vor allem längst vergessene Kochbücher. Zucker und Salz gibt es ja nach wie vor. Die Frage lautet, wie backe ich ohne Getreidemehl einen Kuchen?
Das Hospital muss genauso ohne Brot auskommen wie alle. Das Personal zerbricht sich den Kopf, welche gleichwertige Ernährung den Patienten vorgesetzt werden kann. Den Schulkindern werden keine Pausenbrote mehr mitgegeben, sondern gekochte Kartoffeln, Gemüsebratlinge, Obst. Käse und Wurst pur am Stück. Die Kleinen, denen das Verständnis fehlt, schmeißen ihre Vesper weg und fordern dann zuhause dicke Brote. Das Gemaule in den Familien hört nicht auf. Essensverweigerung wird Alltag.
Auch einige Nachbargruppen, so stellt sich heraus, wie die Religiösen in Lahr und die Straßburger, sind von der Getreideseuche betroffen. Beide Gemeinschaften haben auf Zoratoms Überproduktion und Wirtschaftskraft gehofft. Nun konkurrieren sie um das Getreide, das überregional erhältlich ist. Schon Ende des Sommers ist nichts mehr zu bekommen. Aber die Misere spricht sich herum. Auf einmal tauchen Händler auf, die man noch nie gesehen hat, die allerlei Getreide zu unverschämt hohen Preisen anbieten. Getreide, das aus den Tiefen Frankreichs, aus Ostdeutschland und sogar südlich der Alpen stammt. Getreide, das von weit her kommt, schon mehrmals den Besitzer gewechselt hat und deshalb sehr teuer ist. Anstatt es dem Meistbietenden zu überlassen, nehmen es die Händler lieber wieder mit.
Ralf, der Landwirt mit dem Emmer Feld, stellt Vogelscheuen auf. Wie es ihm gerade einfällt, reitet er manchmal sogar nachts hin, um nach dem Rechten zu sehen. Er glaubt zwar nicht an Diebstahl, aber sicher ist sicher. Nachdem einige Feldhasen es gewagt haben seinen Schatz anzuknabbern, bindet er dort einen Hofhund an. Leider liegt das Feld zu dicht am Dorf. Der einsame Köter jault die ganze Nacht. Zur Beruhigung wird ein zweiter Hund angebunden. Als der Emmer endlich geerntet wird, geschieht das auf eine übertrieben vorsichtige Weise, damit nichts verloren geht. Den Vögeln bleibt nichts, weder den Tauben noch den Saatkrähen. Und die vielen kleinen Vogelarten gehen erst recht leer aus.
Die Auswirkungen des unfreiwilligen Brotverzichtes merken die Menschen zuerst am veränderten Stuhlgang. Er ist nicht mehr so fest und riecht auch stärker als gewohnt. Die veränderte Ernährung wirkt sich auf die Därme aus, Blähungen nehmen zu, Durchfall auch. Unwohlsein, schlechte Stimmung, verlorene Feierlaune, sind Auswirkungen der abnehmenden Lebensqualität. Das Frühstück wird mit Unlust eingenommen und oft mit Alkohol aufgewertet.
Im Hebst werden Wintervorräte angelegt wie nie zuvor. Es ist das geschäftigste Spätjahr aller. Nie wurde so sehr auf die Qualität des Heus geachtet, um die Pferde einigermaßen zufrieden zu stellen. An Obst und Gemüse wird eingemacht was geht, die kleinste Kartoffel und die mickrigste Rübe werden geerntet und eingelagert. Es wird doppelt so viel Käse hergestellt als sonst und doppelt so viel Wurst geräuchert. Jede Traube wird geerntet, alles Fallobst zu Schnaps gebrannt, denn Wein und Schnaps aus Zoratom sind begehrt. So begehrt, dass man dafür sogar Weizen bekommt.
In der folgenden Vollversammlung geben die Erfinderischen ihre Lieblingsrezepte Preis. Zum Beispiel: Welche Teige sich aus Soja, Linsen und Kartoffeln machen lassen. Manche Bürger reden über ihre Körperlichen Veränderungen. Viele leiden unter Kopfschmerzen, weil sie Brot durch Fleisch ersetzt haben. Carlina warnt vor zu vielem Tierischen. Dreiviertel der Ernährung sollte aus Gemüse und Obst bestehen, erklärt sie. Doch richtig satt werden die Leute nur von Fleisch, Wurst, Eiern und Käse.
An Weihnachten dann die Überraschung. In den meisten Haushalten gibt es Gebäck und Kuchen. Von Mehl, das man sich am Munde abgespart oder teuer erstanden hat. Man lädt nun seine Freunde nicht mehr zu einem leckeren Braten ein, sondern zu Gebäck und Kuchen. Einige bieten üppige Butterbrote an, die die Gäste wahlweise mit Wurst, Käse, Ei oder Marmelade garnieren dürfen. Das sind Festessen. Für zwei Tage sind die Leute guter Stimmung. Danach folgt wieder die ungewollte triste Ernährung. Carlina lehnt alle Einladungen ab. Will niemandem etwas wegessen, schließlich ist sie maßgeblich mitverantwortlich, dass es kein Mehl gibt.
Im neuen Jahr werden längst verwilderte Terrassen gerodet. Die Wildtierherden weiden zwar alles ab was hoch wachsen will. Aber im Bereich der Grasnarbe ist der Boden furchtbar verwurzelt und verfilzt. Um lockeren Ackerboden zu bekommen, müssen die Landwirte die oberen zwanzig Zentimeter umstechen und zerkleinern. Auf diese neuen Grundstücke fahren sie noch Kuh- und Pferdemist und schaffen so beste Wachstumsbedingungen. Im Frühjahr soll ein neuer Versuch mit Getreide und Mais gestartet werden. Vielleicht steckt die Getreideseuche nur in den alten Böden.
Im Winter kommt sehr viel Kohl auf den Tisch. Weißkohl, Grünkohl, Blumenkohl, Rosenkohl und Brokkoli. Und viele Hülsenfrüchte. Von jeder Hülsenfrucht gibt es gleich mehrere Sorten. Sie werden zusammen mit Kartoffeln und Fleisch serviert. Oft gibt es nachmittags und abends dasselbe. Fleisch gibt es immer. Rind, Schwein, Schaf, Ziege, Geflügel, Wildschwein, Hirsch, Reh, Wisent, Gämse, Lama, Antilope, Strauß und manchmal sogar Pferdefleisch. Als Nachtisch, eingemachtes Obst. Nudeln aus Linsen werden in Ermangelung richtiger Nudeln immer beliebter. Brotersatz aus Sojamehl auch. Jede Hausfrau probiert ihre eigene Mischung. Salz ist am wichtigsten, und Eier und Milch. Was ein bekömmliches Sojabrot ausmacht, bestimmen diverse Kräuter und oft geheime Zutaten. Ein richtiger Wettkampf entsteht.
Zu Ostern will Grissly für den besten Brotersatz einen Preis verleihen. Erster Preis, ein Kilo Mehl. Über fünfzig Hausfrauen und Hausmänner melden sich an, der Alte ist total überfordert. Letztlich kommen die Laibe auf eine Liste, werden mit einer Nummer versehen und im Sportheim auf Tischen präsentiert. Die Bevölkerung darf probieren und bis zu drei Punkte in Form von Strichen verleihen. Drei Striche für sehr gute Brote. Was nicht schmeckt soll strichlos bleiben. Es entsteht ein unübersichtliches Gerangel. Richard stellt fest, dass immer wieder die gleichen zum selben Brot gehen und die Strichliste vollkritzeln. Grissly sieht sich gezwungen den Wettbewerb, obwohl alle Brote schon deutlich angeknabbert sind, neu zu beginnen. Er postiert Saalordner, die das Abstimmungsverhalten überwachen. Und den Ablauf regeln. Zudem müssen sie sich merken, wer schon im Sportheim gewesen war. Gerade Kinder benutzen den Wettbewerb auch, um sich satt zu essen. Am Abend ist fast alles aufgegessen und es kommt zum Chaos. Angeblich wurden Strichlisten vertauscht, Nummern verändert. Als die Verwirrung ihr größtes Ausmaß erreicht hat, sammelt Carlina alle Listen ein und geht in die Küche des Sportheims. Dort untersucht sie die Handschriften. Alle Listen die ihr verdächtig erscheinen, lässt sie gleich verschwinden. Von den Restlichen nimmt sie die drei mit den meisten Strichen und geht wieder in die Halle.
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