„Ich fühle mich müde.“
Die Frau lachte erstaunt auf. „Müde? Ihr habt tagelang geschlafen!“ Ein mehr als erstaunter Ausdruck verriet der etwas älteren Frau, dass die jüngere keine Ahnung hatte, wie viel Zeit vergangen war. „Es ist vier Tage her seit man Euch hergebracht hat. Vier Tage, die Ihr bewusstlos ward.“
„Bewusstlos? Warum?“, fragte sie nur verwirrt. Warum war sie bewusstlos gewesen? Was war passiert?
„Ihr wisst es nicht?“ Die Frau sah sie mitleidig an. Ein Kopfschütteln war alles an Antwort, was sie bekam. „Nun ich hatte gehofft, dass Ihr es wissen würdet. Ich habe nicht gerade viele Informationen über Euch erhalten! Nur, dass ich mich um Euch kümmern soll. Ihr könnt mir nicht sagen, was vorgefallen ist?“
Eine Weile herrschte betretenes, nachdenkliches Schweigen. Aber die jüngere der beiden Frauen schüttelte nur wieder den Kopf. Nein, sie hatte keine Ahnung! Sie hatte nicht mal eine Ahnung davon, wem sie sich eigentlich gegenüber befand, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, dass sie es hätte wissen müssen.
Ein nervöses Unbehagen machte sich plötzlich in ihr breit. Krampfhaft nachdenkend sah sie von der Frau zu dem Mann hinüber, dann wieder zur Frau, und biss sich die ganze Zeit über auf der Unterlippe herum.
„Es scheint Euch noch gar nicht gut zu gehen!“, stellte die Frau fest. „Ihr solltet Euch vielleicht doch noch etwas ausruhen!“
„Sie kann nicht hier bleiben. Hier werden sie ebenfalls einfach hereinfallen und alles durchsuchen!“, sagte der Mann. Eilig kramte er in einer Truhe am Ende des Bettes herum, und beförderte dann ein Tuch hervor, dass er der jungen Frau hastig um den Kopf schlang. „Kommt mit!“, befahl er nur knapp. Aber als die ältere Frau nach ihrem Oberarm griff, um ihr aufzuhelfen, zog die jüngere ihren Arm weg, und sah einigermaßen erschrocken die beiden wieder abwechselnd an.
„Beruhigt Euch, wir werden Euch bestimmt nichts antun!“, versuchte der Mann sie zu beschwichtigen. „Aber wir sollten uns beeilen, bevor Hakkars Soldaten hier sind!“ Eilig zog er sie dann doch am Arm hinter sich her, durch lange Flure hindurch. Irgendwann stießen sie mit einem Mann zusammen.
„Halt!“, gebot er ihnen streng. „Wer ist das?“
Der Mann, der sie bis hierher geführt hatte, erstarrte regelrecht.
„Niemand.“, gab er schnell zurück. „Tretet zur Seite. Diese Frau geht Euch nichts an!“
„Das werde ich selber entscheiden!“, entgegnete der andere Mann barsch und beugte sich drohend vor.
„Was fällt Euch ein? Es ist eine Ungeheuerlichkeit, wie Ihr Euch hier aufführt! Ich werde das nicht mehr länger dulden, Hakkar!“, beschwerte sich der ältere Mann in lautem, vorwurfsvollen Ton.
„Wollt Ihr mir etwa drohen?“, lachte der angesprochene Hakkar gehässig. „Ich will wissen, wer sie ist!“ Damit riss er ihr das Kopftuch herunter und besah sich die junge Frau, die darunter verborgen war.
„Sieh mich gefälligst an!“, schnaubte Hakkar, als die Frau ihren Blick nervös senkte.
„Was fällt Euch ein, meiner Frau zu Nahe treten zu wollen?“, fragte plötzlich ein anderer Mann scharf, der eiligen Schrittes auf die kleine Versammlung zukam. Trotzdem deutete er eine höfliche Verbeugung an, als er direkt vor ihnen stehen blieb.
„Eure Frau? Und wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?“
„Nasim Abhir.“, gab der Mann nur kurz zurück. „Aus Hal-Abun.“, fügte er hinzu, als er noch immer durchdringend angesehen wurde.
„Und Eure Frau …?“
„Yasemin. Wir sind auf Verwandtschaftsbesuch hier!“
„So, so.“, machte Hakkar und ging noch einen Schritt weiter auf Yasemin zu. „Und woher stammt wohl diese Verletzung am Kopf?“, fragte er lauernd und wollte gerade nach der Frau greifen. Sie machte sich schnell von dem alten Mann los und trat hinter den anderen Mann, der sie soeben als seine Frau in Schutz genommen hatte.
„Fragt mal den Schneider mit den ausgetretenen Stufen vor seiner Tür!“, gab Nasim bissig zurück.
Hakkar reckte nur sein Kinn in die Luft und straffte seine Schultern, bevor er sich umdrehte, um davon zu gehen.
Eine ganze Weile noch standen sie alle wie versteinert da. Nur Nasim schien angestrengt zu lauschen. Als er sich sicher war, dass er wirklich weg war, ließ er sich schnell auf ein Knie hinunter und verbeugte sich höflich vor dem älteren Mann.
„Fürst Haza!“, grüßte er ihn demütig. „Entschuldigt mein forsches Auftreten!“
„Gut reagiert, Nasim, gut reagiert!“, lobte Haza ihn leise. „Kommt.“ Er zog den jungen Mann an den Schultern wieder hoch und mit sich fort, führte die kleine Gruppe eilig wieder an. Sie gingen weiter die Flure entlang, hinaus auf die Strasse, die nur so vor aufgebrachten Menschen der Stadt und Soldaten wimmelte, und weiter zu einem Palast, durch dessen hinteres Eingangstor sie alle unauffällig verschwanden.
Erst als sie in einem kleineren Saal waren, den Haza nur für solche inoffiziellen Angelegenheiten nutzte, atmete der Fürst auf.
„Es ist eine Unverschämtheit, was sich dieser Hakkar hier herausnimmt!“, wetterte er. „Ihr habt wirklich gut reagiert!“
„Ich sah Euch in offensichtlichen Erklärungsnöten.“, erklärte Nasim leicht achselzuckend, verneigte sich aber wieder knapp und demütig.
Haza nickte erleichtert und sah dann die beiden Frauen an. Die ältere von beiden wandte sich mit den Worten: „Ich bin sofort zurück.“, zum Gehen um.
Haza sah weiterhin zu der jungen Frau hinüber.
„Und wer seid Ihr?“, fragte Nasim an sie gewandt. Haza holte gerade tief Luft, um ihm zu antworten, hielt aber inne, als er das Kopfschütteln und den verwirrten Ausdruck in den Augen der Frau gewahr wurde. Nachdenklich sah er sie eine kurze Weile an und runzelte die Stirn.
„Vielleicht sollte ein Geheimnis besser eines bleiben. Entschuldigt.“, sagte Haza zu Nasim.
„Ist ihr Name eines?“, wollte Nasim wissen. „Aber reden kann sie doch?“
„Ja, natürlich.“, sagte sie leise und recht scheu.
„Das ist doch schon mal was!“, stellte Nasim fest. „Darf ich fragen woher Ihr kommt? Eurem Akzent nach stammt Ihr ganz und gar nicht von hier.“
Sie sah Haza lange fragend an, bevor sie schließlich zögerlich antwortete.
„Ich … ich … weiß es nicht!“
„Ihr wisst nicht ...?“ Nasim war verblüfft. „Aber Ihr werdet doch wissen, woher Ihr stammt, wo Ihr Zuhause seid!“
Eine nachdenkliche Pause entstand. Als Nasim sah, dass sich die Augen der Frau mit Tränen füllten, sah er fragend Haza an.
„Habt Ihr wirklich so viel zu verbergen?“
Die Tür wurde wieder geöffnet und die andere Frau trat mit einem Tablett mit Teegläsern wieder herein, die sie den Männern anbot.
„Ich danke Euch, Ofra.“, sagte Nasim höflich und griff mit einer tiefen Verneigung nach einem Glas.
„Offen gestanden: Ja! Und ebenso offen gestanden wissen wir leider auch nicht, was genau passiert ist.“ Auch Haza nahm sich einen Tee und hielt auch der jungen Frau ein Glas hin.
„Danke.“, sagte sie nur sehr unsicher.
„Ich denke wir haben ein Problem, Ofra.“, stellte Haza fest und beobachtete die junge Frau eindringlich. „Oder aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ist es auch eine günstige Fügung des Schicksals.“
„Vater?“, fragte Ofra. Sie verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
„Ich glaube sie kann sich tatsächlich nicht mehr erinnern!“
„Sie war bewusstlos. Und sie kennt uns nicht. Woher auch? Was hast du erwartet?“ Ofra zeigte vollstes Verständnis für die Situation der jungen Frau. „Wir sollten uns erst einmal alle vorstellen: das ist mein Vater, Fürst Haza von Sa-Lham. Ihr habt bestimmt schon von uns gehört, auch wenn wir uns vorher noch nie begegnet sind! Und das ist Nasim Abhir, aber nicht aus Hal-Abun, sondern Al-Alef, wenn ich richtig informiert bin. Er war dabei, als es passiert ist.“
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