Prolog
1. Strophe
1 Ein Sturm zieht auf
2 Donnerdrache
3 Ostwind
4 Entwurzelt
5 Tanzende Wellen
2. Strophe
6 Karottenkaffee
7 Im alten Leuchtturm
8 Perlen
9 Chimären am Strand
10 Blitzklingen
11 Pizza-Abend
3. Strophe
12 Kesselboot
13 Kuppelstadt
14 Fara
15 Wetterbillard
16 Audienz
4. Strophe
17 Gläserne Hallen
18 Finsternis
19 Wiedersehen
20 Tribunal
21 Abschied
5. Strophe
22 Land in Sicht
23 Drachenbeschwörer
24 Im Auge des Sturms
25 Tsunami
26 Die Worte des Windes
27 Wetterleuchten
So singt der Wind
in Neumondnächten.
Die See beweint, was einst geschah.
Ein holdes Kind
mit Hexenmächten,
das kam dem Bösen viel zu nah.
Verriet sein Volk am Meeresgrund
und floh, seither fehlt jede Kund’.
Und Sturmbö klagt
am Horizont.
Die Wellen schreiben in den Sand.
Sei ruhig verzagt,
wirst nicht geschont,
Prinzessin von Atlantisland.
Ein Lied, zu singen in den Gläsernen Hallen
Verfasser unbekannt
Um es gleich vorwegzusagen, es gibt drei Arten von Stürmen: die Kleinen, die Großen und die Anderen.
Die ersten beiden entstehen zwar auch nicht ohne Magie, doch sie sind etwas, das die Menschen verstehen können. Oder zumindest meinen zu verstehen, indem sie es physikalisch erklären: Luftmassen unterschiedlicher Temperatur, die aufeinanderprallen, elektrostatische Entladungen zwischen Wolken, gerichtete Luftbewegungen, kondensierter Wasserdampf, der auf die Erde tropft …
Kleine Stürme sind dabei am harmlosesten. Alltägliche Unwetter eben: hier ein Gewitter, dort ein Regenguss. Manchmal haben sie einen entwurzelten Baum oder einen überschwemmten Garten zur Folge. Nichts wirklich Dramatisches. Sie lärmen und leuchten und durchnässen einen bis auf die Haut, sodass man einen Schnupfen bekommt, und das war’s.
Um einen kleinen Sturm zusammenzubrauen, braucht man lediglich einen Kessel und ein paar Wolken. Die lässt man eine Weile bei geringer Hitze köcheln, dann ruft man ein wenig Wind dazu, um alles gut zu verrühren, und voilà! Wir Hexen lieben die kleinen Stürme. Sie sind sozusagen unser Hauptgeschäft.
Die großen Stürme hingegen können schon gefährlicher sein. Sie hinterlassen nicht selten eine Spur der Verwüstung. Schiffe geraten ihretwegen in Seenot. Ernten werden vernichtet, Dächer abgedeckt. Flüsse treten über die Ufer, Tsunamis überrollen Küsten. Solche Stürme erschaffen wir nur in Ausnahmefällen. Die Dinger geraten nämlich viel zu leicht außer Kontrolle. Man will vielleicht nur rasch einen ausgedörrten Landstrich bewässern, doch ehe man sich’s versieht, hat man ein regelrechtes Monster losgelassen. Total außer Rand und Band, manchmal nur noch mit einem Blutopfer zu beruhigen. Aber selbst solche Stürme haben trotz ihrer verheerenden Auswirkungen natürlich keinen eigenen Willen, führen nichts im Schilde oder so. Sie sind bloß ziemlich unangenehm.
Tja, und dann gibt es noch eine dritte Art von Stürmen: die Anderen, wie wir Hexen sie nennen. Stürme, die weit über Regentage oder Naturkatastrophen hinausgehen. Laut unseren Büchern existieren sie zum Glück ausschließlich auf hoher See. Weit weg von den Menschen inmitten einer Wüste aus Wellenkämmen. Es sind Stürme, denen tatsächlich etwas Böses innewohnt. Stürme, die wir auf Leben und Tod bekämpfen müssen und denen selbst die besten unter den Meereshexen unterliegen. Seit Jahrtausenden, seit der Gott des Schicksals, der sie einst auf die Erde losließ, spurlos verschwand, wie es in den Chroniken heißt, so lange schon versuchen wir, die Menschen zu beschützen. Vor den Anderen und dem, was in ihnen haust, und eigentlich ist uns das bisher auch sehr gut gelungen.
Wie gesagt, wir dachten sogar, es gäbe sie nur dort draußen. Weit, weit entfernt von allem.
Und ich persönlich nahm natürlich ohnehin an, nie wieder einem von ihnen zu begegnen.
Aber das war ein Irrtum.
Wettervorhersage
Das nieselige Novemberwetter beschert ungemütliche Tage.
Der Wind weht dabei schwach bis mäßig aus östlicher Richtung und treibt zwei geheimnisvolle junge Hexer vor sich her.
Nachts kann es teils zu stürmischen Böen mit Geschwindigkeiten von über 100 Kilometern pro Stunde kommen.
Robin sollte also lieber in Deckung gehen.
Der Wind raunte mir Geheimnisse ins Ohr und das aufziehende Unwetter prickelte bereits in meinen Fingerspitzen. Jede Faser meines Körpers sehnte sich danach, den Kopf in den Nacken zu legen und auf das noch ferne Donnergrollen zu lauschen. Wie gern wäre ich mitten auf der Straße stehen geblieben, um auf die ersten silbrigen Regenfäden zu warten und sie mit den alten Liedern zu begrüßen!
Aber das ging natürlich auf keinen Fall. Wieder einmal ermahnte ich mich selbst: Nach allem, was ich angerichtet hatte, durfte ich keine Hexe mehr sein. Jenen Teil meines Lebens hatte ich zusammen mit meiner Kindheit längst hinter mir gelassen. Ein Sturm sollte für mich inzwischen nur noch etwas sein, das manchmal eben geschah. Herrje, ich musste dringend aufhören, es für etwas anderes zu halten.
Eilig hastete ich weiter über das Pflaster. Autos brausten an mir vorbei, wirbelten bräunliche Pfützen auf und mein Haar löste sich aus dem Knoten an meinem Hinterkopf, um wie eine Fahne hinter mir herzuflattern. Langsam bekam ich Seitenstiche, so als wäre ich wirklich bloß Robin, das sechzehnjährige Menschenmädchen, als das ich mich ausgab.
Trotz der Stiche beschleunigte ich meine Schritte weiter. Ich konnte jetzt nicht zurückfallen. Nicht, wenn ich das Schlimmste verhindern wollte.
Die Sohlen meiner Turnschuhe quietschten auf dem regenfeuchten Stein, während mich die schmutzigen Plattenbauten der Wohnsiedlung beobachteten. Es hatte den ganzen Vormittag über geschüttet wie aus Eimern und auch jetzt bauschten sich dunkle Wolken am Himmel über der Stadt. Und das Rauschen der verdammten Brandung, die wenige Häuserblocks entfernt über den Strand tanzte, erschien mir wieder einmal allgegenwärtig.
Ein Stück vor mir erkannte ich derweil gerade noch die beiden Pferdeschwänze, die um die nächste Ecke verschwanden. Sie gehörten zu zwei Mädchen aus dem Jahrgang über meinem: Marie und Vivien. Ich kannte sie nicht wirklich und hegte eigentlich auch nicht den Wunsch, daran etwas zu ändern.
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