»Wie absurd!«, sagte ich. »Da geschehen zwei Morde hunderte von Kilometern von hier entfernt, und wir sollen ruck zuck eine Auflistung liefern und den Täter auf dem Silbertablett präsentieren, weil er hier ein Auto gestohlen hat?«
»Ja, so ungefähr stellen die sich das wohl vor. Wie auch immer ..., auch wenn es alles andere als einfach ist ..., wir müssen uns kümmern. Verstärkt. Haben Sie die Unterlagen durchgesehen?«
»Ja, aber es gibt leider keine Hinweise, die uns unmittelbar weiterhelfen könnten. Ein Bezug zu Hamburg geht aus den Unterlagen jedenfalls nicht hervor, warum er das Auto hier gestohlen hat, ist mir ..., ist uns ein Rätsel. Eine Vermutung wäre, dass es sich um ein Nummernschild handelt, das nicht weiter auffällt. Auch in einer ruhigen, kleineren Stadt in Süddeutschland nicht. Aber wir drei konnten daraus nicht ableiten, dass er als nächstes in Hamburg zuschlägt ..., obwohl wir die Unterlagen gestern durchgesehen haben. Es war kein Muster zu erkennen, wie er in geografischer Hinsicht vorgeht.«
»Hmm. Bleibt also nur das Auto.«
»Theoretisch ja. Aber ich fürchte, das bringt uns auch nicht weiter. Der Mann ist kein Idiot, der weiß genau, was er macht. Dieser Wagentyp ist nicht sehr auffällig, es gibt ihn zu Tausenden. Und beim Tanken hat er stets Sonnenbrille und Schirmmütze getragen, die Kameras, auf denen wir den Wagen nachträglich entdeckt haben und auf denen er dann zu sehen ist, liefern gemäß Auswertung der Unterlagen keine brauchbaren Anhaltspunkte für eine gezielte Fahndung.«
»Verdammt noch mal!« Mein Chef stand auf und ging zum Fenster. Für eine Weile sah er still hinaus, dann dreht er sich um und fragte: »Was sagt Ihr Gefühl?«
»Mein Gefühl?«
»Ja, was meinen Sie, wo er als nächstes zuschlägt?«
»Sie gehen also davon aus, dass er weiter töten wird ..., dass es ein weiteres Opfer geben wird?«
»Natürlich. Sie doch auch.«
Ich seufzte. »Ja, bereits seit gestern, daher auch meine Reaktion, dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Aber ich fürchte, ich kann wirklich nicht sagen, wo er als nächstes zuschlägt. Es ist für mich auch heute kein Muster zu erkennen.«
»Ich weiß, ich habe mir auch schon den Kopf zerbrochen, und wir beide werden mit Sicherheit nicht die einzigen sein.«
»Meine Kollegen telefonieren bereits mit den Kollegen in Dresden und Freiburg. Wer weiß, vielleicht hat sich dort ja inzwischen etwas ergeben. Immerhin ist auffällig, dass er beide Mädchen vor der Ermordung weit außerhalb des Ortes der Entführung gebracht hat. Das könnte ..., das wird etwas zu bedeuten haben. Und ich hoffe, wir finden bald heraus, was!«
»Ja, das wäre wünschenswert ..., immerhin sind wir auf jede Mithilfe und Unterstützung angewiesen und für jeden Hinweis dankbar.«
Pause. Für einige Augenblicke hing jeder seinen Gedanken nach.
»Glauben Sie, dass er wieder in Hamburg ist?«
»Ich weiß es nicht. Aber die Meinung des Polizeipräsidenten ist, dass es dort, wo es angefangen hat, auch endet.«
»Und angefangen hat es mit dem Diebstahl des Autos. Nicht mit dem ersten Mord.«
»Richtig. Er hätte überall ein Auto stehlen können, Berlin, München, Frankfurt ..., oder in Stuttgart. Aber warum hier, zum Teufel? Der Oberstaatsanwalt ist übrigens auch dieser Meinung.«
»Aha.«
»Ja, und Sie wissen ja, wie das ist. Wenn diese Herren sich etwas in den Kopf gesetzt haben ...«
Ich erhob mich. »Ja, dann werde ich mal wieder in mein Büro gehen.«
*
Es ging auf Mitternacht zu, als Sönke uns darauf aufmerksam machte, dass sein Privatleben jetzt nach ihm rufe und wir uns morgen wiedersehen würden. Torge und ich machten auch Feierabend. Wir waren mit Abstand die letzten, und wir alle waren frustriert. Trotz zahlreicher Telefonate, Aktendurchsicht und Überlegungen waren wir letzten Endes nicht einen Schritt weiter gekommen. Es war wie verhext!
Wir alle wussten, dass der Täter sehr wahrscheinlich morgen wieder zuschlagen würde. Jedenfalls wenn die These mit dem Drei-Tage-Rhythmus stimmte. Doch war es nur ein Verdacht, insofern waren zwar alle Polizeidienststellen in Hamburg und in den größeren Städten Deutschlands informiert, nicht jedoch die Presse oder die Öffentlichkeit.
»Wie viele vierjährige Mädchen mochte es in Deutschland geben?«
, fragte ich mich, bevor ich das Büro verließ. Mir war irgendwie klar, dass das nächste Opfer nicht in Hamburg sein würde.
*
Der Mittwoch Morgen begann mit einer Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse. Unser Chef saß in unserem Büro und hörte zu. Sönke berichtete Details von Dresden. Das jüngste Opfer, Beatrix Müller, vier Jahre alt, Kindergartenkind wie Annabelle, einziges Kind von Udo und Stefanie Müller, wohnhaft in Dresden seit fünf Jahren, nicht vermögend, keine besonderen oder außergewöhnlichen Hobbys oder geschäftliche Aktivitäten.
»Ganz normale Leute also«, schloss Sönke seinen Bericht und warf einen Blick in die Runde.
Unser Chef sagte nichts, und auch Torge blieb ruhig.
Somit ergriff ich das Wort: »Nach übereinstimmenden Berichten der Gerichtsmedizin von Stuttgart und Dresden wurden beide Mädchen auf die exakt gleiche Weise getötet. Mit fünf Messerstichen in die Brust, ins Herz. Die Stiche wurden nahezu kreisförmig ausgeführt und weisen insofern die Form eines Pentagons auf. Beide Mädchen waren gefesselt und geknebelt, jedoch bei vollem Bewusstsein, als er zustach. Anschließend hat er Fesseln und Knebel entfernt und die Leichen begraben beziehungsweise in der Zschopau ausgesetzt. Offenbar hat er beabsichtigt, dass sie nicht sofort entdeckt wird, denn er hat sie mit Gewichten beschwert. Doch wurde sie zufällig von Wassersportlern, von Kanufahrern, entdeckt. Wie auch bereits im ersten Fall, bei Annabelle, die in Freiburg entführt worden ist, ist er mit Beatrix noch eine gehörige Strecke gefahren, bevor er sie ermordet und ihre Leiche beseitigt hat. Das Auto hat er schließlich in Dresden am Hauptbahnhof abgestellt, so kamen die Kollegen aus Sachsen ihm auf die Spur, als von hier, aus Hamburg, der Hinweis kam, dass es gestohlen worden war.«
Ich sah unseren Chef eindringlich an. »Beseitigt ist eventuell in diesem Zusammenhang nicht ganz zutreffend. Es drängt sich mehr und mehr der Verdacht auf, dass es sich nicht nur um einen Serientäter, sondern um einen Ritualmörder handeln könnte. Die Messerstiche ins Herz, die identische Vorgehensweise, das Timing ..., es deutet vieles darauf hin.«
»Ein Ritualmörder! Herrje!« Andresen sprang auf. Er war eigentlich nicht der emotionale Typ, doch das ging ihm offenbar zu nah. Erregt schritt er im Büro auf und ab, ging dann bis zum Fenster und verharrte dort.
Wir hatten uns bereits zuvor ausgetauscht, ob wir den Verdacht äußern sollten und es für richtig befunden. Doch die Reaktion zeigte, wie sensibel mit diesem Thema umgegangen werden musste. Dies schien auch unser Chef verinnerlicht zu haben. Er drehte sich um. »Können Sie sich überhaupt eine Vorstellung machen, was passiert, wenn das an die Presse und die Öffentlichkeit gelangt?«, fragte er.
»Es wäre der Teufel los«, brummte Sönke.
»Sehr richtig!« Andresen wirkte fast verzweifelt. »Wenn ich das dem Polizeipräsidenten erzähle, dreht der völlig durch!«
»Dann erzählen Sie es doch nicht«, schlug ich vor. »Noch nicht. Immerhin ist es nur ein Verdacht, ohne irgendwelche Hintergründe des Täters zu kennen.«
»Hm, wir werden sehen. Gibt es noch etwas?«
»Nein, Chef, das wäre erstmal alles. Die Fahndung läuft bundesweit, das Bundeskriminalamt ist über unsere Ermittlungsergebnisse inzwischen informiert, aber der Erfolg auf einen Zufallstreffer ist sehr gering.«
Andresen setzte sich wieder. »In Ordnung, meine Herren. Arbeiten Sie weiter. Ich werde dem Oberstaatsanwalt und dem Polizeipräsidenten eine kurze Einschätzung der Lage geben. Sollen die entscheiden, ob und was wir an die Presse geben!«
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