*
Am Samstag wachte ich um sechs Uhr auf. Schnell vergegenwärtigte ich mir, wo ich war. Und warum. Ich hatte Svens Unterlagen bereits durchgesehen, als wir uns um halb neun zum Frühstück trafen.
Lange Zeit mochte keiner von uns das Thema anschneiden, weswegen wir hier waren, und wir aßen in besinnlicher Stille. Wider Erwarten schmeckte mir das Frühstück ganz gut, und der Kaffee war ausgezeichnet. Ich nippte eben gedankenverloren an meinem Orangensaft, als Sven unvermittelt das Wort ergriff: »Ich treffe mich nachher noch mit jemandem aus dem Innenministerium. Die fahren Sonderschichten, um den Fall aufzuklären.«
»Hm. Zwei Tage nach der Entführung und einen Tag nach Entdeckung der Leiche.«
Ich hatte es nicht vorwurfsvoll gemeint, einfach nur den Tatsachen ins Auge geblickt, und Sven verstand mich. »Ja, das ist für alle Beteiligten kein einfaches Unterfangen. Meiner Quelle zufolge haben sie noch immer keinen Ansatzpunkt. Derzeit werden alle Überwachungsbänder aus dem Freiburger Raum und von der Gegend des Fundorts der Leiche ausgewertet. Aber das kann dauern.«
»Zumal sie gar nicht wissen, wonach sie suchen müssen. Ein dunkler Kombi!«
»Und nach einem Mann!«
Ich sah Sven überrascht an. Er klang verbittert.
»Was?«, fragte er.
»Nichts ..., es war nur ..., du klangst so ..., ich weiß auch nicht.«
»Du meinst, das schränkt den Täterkreis nur auf die Hälfte der Bevölkerung ein? Und wenn man ein gewisses Alter und einige andere Dinge zu Grunde legt, dann noch mal um ein Vielfaches? Und wenn man dann noch die rausfiltert, die einen dunklen Kombi fahren und aus dem Raum Freiburg oder St. Georgen oder Stuttgart kommen, dann wird es überschaubar?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein. Ich denke nicht, dass es so einfach ist.«
»Wieso?«
»Der Täter hat die Tat offenbar seit langem geplant. Mit ziemlicher Sicherheit wird er das Auto gestohlen und auf gar keinen Fall sein eigenes dafür benutzt haben. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob er aus dem Freiburger oder Stuttgarter Raum stammt, oder überhaupt aus diesem Bundesland. Theoretisch könnte er überall herkommen, sogar aus dem Ausland.«
»Hmm.« Mein Gegenüber blickte mich nachdenklich an. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Aber du hast Recht. Die Dimensionen könnten viel größer sein, als bisher angenommen.«
Er machte eine fast schon melodramatische Pause und sah mich ein wenig verzweifelt an. »Aber wenn das tatsächlich der Fall sein sollte ..., und wenn sie ihn nicht binnen sechsunddreißig Stunden nach der Tat fassen, wird es schwer, sagt meine Quelle. Und dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass er wieder morden wird.«
Ich griff nach meiner Tasche und stand auf.
»Wo willst du hin?«
»Diesen Gedanken hatte ich auch schon. Ich will verhindern, dass es eine zweite Tote gibt, ein zweites totes Mädchen, eine zweite Annabelle. Ich fahre nach Freiburg.«
*
Ich hatte meine Sachen aus dem Hotelzimmer geholt, dieses bezahlt und war nun auf dem Weg dorthin, wo alles begonnen hatte. Dorthin, wo Annabelle gelebt hatte. Auf der Autobahn war Stau, die Ferien hatten gerade sowohl in Bayern als auch in Baden-Württemberg begonnen. Auf der A8 von München nach Karlsruhe ging nichts mehr. Ich nutzte die Zeit, um einige Telefonate zu führen. Mit meiner Redaktion in Berlin, mit einer Freundin, und schließlich mit den Eltern von Annabelle, die ich vorsichtig auf meinen Besuch vorbereitete.
Wie zu erwarten war, verlief das Gespräch zunächst nicht so erfreulich. Markus Ähle, Annabelles Vater, verhielt sich sehr abweisend und erklärte lapidar, dass er der Polizei bereits alles gesagt hatte, was er weiß, und dass er mit Journalisten in der jetzigen Situation nicht reden würde. Er hoffte dafür auf Verständnis. Doch gab er das Telefon anschließend seiner Frau, damit, wie er meinte, ich dies von ihr ebenso bestätigt bekommen würde. Gesa Ähle war am Anfang sehr zurückhaltend und einsilbig, doch als ich nach einer Baustelle einmal etwas schneller fahren konnte, hörte sie offenbar, dass ich unterwegs war.
»Fahren Sie im Auto? Sind Sie schon auf dem Weg zu uns?«
Ich versuchte ein sarkastisches Lachen. »Nun ja, ich hatte es zumindest vor. Momentan stehe ich mehr oder weniger im Stau. Hier sind viele Urlauber unterwegs.«
»Woher kommen Sie denn?«
»Heute Morgen aus Stuttgart, generell aus Berlin, von dort bin ich gestern Abend hier eingetroffen.«
»Aus Berlin?« Es war das erste Mal, dass sie aus ihrem traurig-verschlossenen und monoton-abweisenden Tonfall heraus kam. »Warum?«
Ich musste nicht eine Sekunde überlegen. Ich hatte mich auf die Frage, auch wenn ich sie zu einem späteren Zeitpunkt erwartet hätte, vorbereitet: »Ich möchte versuchen zu verstehen, warum der Mörder Annabelle ausgewählt hat. Und ich möchte verhindern, dass es ein zweites totes Mädchen gibt.«
Nach schier unendlichen Augenblicken sprach Gesa wieder. Aber ihre Stimme war anders. Fest, bestimmt, klar, sie schien wie aus einer Lethargie erwacht. »Wann können Sie hier sein?«
Ich rechnete kurz. »In zwei bis drei Stunden, schätze ich.«
»Wir werden auf Sie warten. Bitte rufen Sie kurz vorher noch einmal an. Wir öffnen nicht jedem die Tür ..., heute.«
»Ich verstehe ..., vielen Dank. Ich melde mich wieder.«
»Bis nachher!«
Das Gespräch war beendet.
»Eine starke Frau«
, überlegte ich.
»Warum hat sie zugestimmt? Eigentlich müssten die beiden auch bereits von zahlreichen Polizisten und Journalisten-Kollegen um entsprechende Erläuterungen gebeten worden sein. Ich werde doch nicht die Einzige sein, die einen weiteren Mord verhindern will!«
Als ich im nächsten Stau stand, war es nicht mehr weit bis zur A5 in Richtung Basel. Noch immer überlegte ich, warum Gesa Ähle ihre Meinung – und die ihres Mannes – geändert hatte.
»Der Ton macht die Musik«
, überlegte ich.
»Vielleicht hatten meine Worte einfach glaubwürdig geklungen, und sie hatte gehört, dass ich auch das meine, was ich sage.«
Mitten in meine Gedankengänge hinein rief Sven an. Ich nahm den Anruf entgegen. »Hallo, Sven!«
»Hallo, Kathrin! Hast du einen Moment?«
»Sicher. Was gibt es denn?«
»Ich war gerade bei der Pressekonferenz des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaft. Es war ein schier unüberschaubares Großaufgebot an mehr oder weniger zuständigen Leuten aufmarschiert, die ein nicht minder großes Aufgebot an Medienvertretern über den Stand der Ermittlungen informiert haben. Der Innenminister, der Polizeipräsident, der Leiter der Polizeidirektion Freiburg, zwei Vertreter der Staatsanwaltschaft, zwei Referatsleiter aus dem Polizeipräsidium, der Präsident des Landeskriminalamts und der Pressesprecher des Innenministeriums bildeten die erste Reihe.«
Meine Hände umspannten das Lenkrad etwas fester. »Und?«
»Nichts! Sie wissen nichts! Und um das der Öffentlichkeit mitzuteilen, haben sie eine halbe Stunde gebraucht. Netto. Mit Vor- und Nachbereitung wurden es fast anderthalb.«
Ich atmete hörbar aus.
»Aber ich habe von meiner Quelle im Innenministerium vorher etwas erfahren.«
»Was?«
»Die nächste Stufe ist eingeleitet. Es werden alle Halter von dunklen Kombis überprüft, das heißt, zunächst wird eine Liste zusammen gestellt. Die Kennzeichen werden anschließend mit denen der Verkehrsüberwachung im gesamten Bundesland abgeglichen. So will man ermitteln, wer wann wo war.«
»Hirnrissig! So kriegen sie ihn nie!«
»Das denke ich auch. So wie du auch vermutet hast, dass der Täter nahezu alles perfekt geplant hat, wird er nicht so blöd gewesen sein und sein eigenes Auto benutzt haben.«
»Genau! Auch die sollten annehmen, dass er eins gestohlen hat. Sind die wirklich noch nicht auf die Idee gekommen? Gibt es in der Richtung irgendwelche Ermittlungen?«
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