»Nichts Nennenswertes. Der Gedanke wurde mal geäußert, aber letzten Endes nicht weiter verfolgt. Doch ich könnte mir vorstellen, dass alle aus ihrem Dämmerschlaf erwachen, wenn ein dunkler Kombi als gestohlen gemeldet wird. Oder endlich gefunden wird.«
»Ja, das kennen wir ja zur Genüge ...«, sinnierte ich laut.
»Und ob! Bist du denn eigentlich schon in Freiburg?«
»Demnächst«, erwiderte ich mit einem Anflug von Ironie in der Stimme. »Euer Verkehr hier kann glatt mit den Berliner Verkehrsverhältnissen konkurrieren.«
»Nur kein Neid. Die Ferien sind auch irgendwann mal wieder vorüber, dann ist es nur noch halb so schlimm.«
Er lachte ein freudloses Lachen.
»Tschüs, ich melde mich wieder!«
»Okay, bis dann!«
*
Es war sechs Uhr Abends, als ich in Freiburg angekommen war, mein Hotelzimmer bezogen und im zugehörigen Restaurant etwas gegessen hatte und nun in einer Querstraße unweit des Hauses der Familie Ähle parkte. Ich rief sie an und erklärte, dass ich in fünf Minuten bei ihnen sein könnte.
Sie erwarteten mich.
Auf dem Weg zum Haus versuchte ich mir die Szene der Entführung vor Augen zu führen. Das Fluchtfahrzeug in der Hauptstraße der ruhig gelegenen Wohnsiedlung war vielleicht deswegen niemandem aufgefallen, weil es einheimische Nummernschilder trug. Oder die einer größeren Stadt. Das Timing des Täters, der genau gewusst haben musste, wann Annabelle und ihre Mutter das Haus verlassen, um zum Kindergarten zu gehen. Ich sah mir die Gegend genauer an, doch ich bemerkte nichts, was meine Frage
»Warum Annabelle?«
auch nur annähernd hätte beantworten können. Es war eine ganz normale Wohnsiedlung, mit gepflegten Gärten, mittelgroßen Grundstücken, einigen Bäumen, und zur Zeit recht wenig Verkehr. Schließlich stand ich vor Haus Nummer vierundzwanzig. Ich klingelte.
Ein Mann öffnete die Tür. Er mochte ungefähr in meinem Alter sein, war groß, schlank, dunkelhaarig und sah übernächtigt aus.
»Wie viel mochte er in den vergangenen beiden Nächten geschlafen haben?«
Ich stellte mich vor, und mit einer Handbewegung lud er mich ein einzutreten. Im Flur stand bereits seine Frau, die mich zögernd ansah. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, wurde ich von beiden eingehend gemustert.
Ich hielt den Blicken ganz unbefangen stand und versuchte nicht zu aufdringlich zu sein. Gleichwohl verschaffte ich mir schnell einen Überblick. Diele, Küche, Bad, offenes Wohnzimmer, alles machte einen gepflegten Eindruck. Von der Diele ging es nach oben und nach unten. Oben waren ein Schlafzimmer und zwei Kinderzimmer, unten ein ausgebauter Keller, wie ich später erfuhr. Dann betrachtete ich die Mutter von Annabelle eingehender. Ja, auch Gesa Ähle hatte nicht viel geschlafen in den letzten beiden Nächten, doch war sie weit davon entfernt, hysterisch oder sonst irgendwie zu reagieren.
Offenbar hatte ich inzwischen die Musterung bestanden, Gesa trat einige Schritte auf mich zu, gab mir die Hand und geleitete mich ins Wohnzimmer. Hinter der Tür war noch eine Essecke, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Wir setzten uns, ihr Mann sorgte für Getränke.
»Ich nehme an, die Autofahrt war nicht sehr angenehm? Nun, zu Ferienbeginn ist das immer so eine Sache ...«
»Danke ..., ja, in der Tat. Mit dem Fahrrad wäre ich jedenfalls nicht viel langsamer gewesen«, schoss es spontan aus mir heraus, doch im selben Moment hätte ich mir auf die Zunge beißen können ob meiner Impulsivität.
Wider Erwarten lachte Gesa, ihr schien meine ungezwungene und direkte Art zu gefallen. Wir plauderten ein wenig Belangloses, ich lobte die Blumenpracht im Garten, Markus drückte sein Mitgefühl für die weite Reise aus.
Wie unvermittelt stürzte die Frage von Gesa auf mich ein: »Wollen Sie ihr Zimmer sehen?«
Ich wusste, was sie meinte. Natürlich wollte ich. »Gerne.«
Sie erhob sich, und auch ich stand auf, ihr in die Diele und nach oben folgend.
In Annabelles Zimmer entdeckte ich nichts Ungewöhnliches. Wenn man davon absah, dass es für das Zimmer einer Vierjährigen zu sauber, zu aufgeräumt, zu ordentlich war. Ohne dass ich diesbezüglich eine Frage gestellt hätte, sagte Annabelles Mutter: »Hier haben sich schon viele Polizisten umgesehen. Sie haben das ganze Zimmer durchsucht und überall Fingerabdrücke genommen. Von meinem Mann und mir wurden auch Fingerabdrücke genommen, um bekannte ausschließen zu können. Ein Polizist meinte, dass es sein könne, dass ...«
Ihr verschlug es die Sprache.
Einem Impuls folgend, ergriff ich ihre Hand und vollendete den Satz: »... dass der Täter hier zuvor eingebrochen war?«
Sie nickte, und ich glaube, wäre in diesem Moment nicht ihr Mann erschienen, hätte sie ihren Emotionen freien Lauf gelassen. Doch er schien ihr eine verlässliche Stütze zu sein. Er legte seinen Arm um sie, und wir setzten uns alle auf das Bett. So saßen wir eine lange Zeit. Meine Überlegung, die mir zwischendurch kam, sie damit zu trösten, dass Annabelle nicht Opfer eines Sexualdelikts geworden war, verwarf ich. Auch wenn es manchmal so scheint, als ob es gut wäre, etwas Tröstendes zu sagen, ist Schweigen doch Gold!
Es war elf Uhr an diesem lauen Sommerabend, als ich das Haus von Annabelles Eltern verließ. Nach einer kompletten Hausbesichtigung hatte Gesa ein kleines Abendbrot bereitet, anschließend hatten wir Fotos und Videofilme angeschaut. Gesa meinte, so könnte ich mir am ehesten ein Bild von ihrer Tochter machen – und vielleicht einen Hinweis auf die Tatumstände entdecken. Für nachfolgende Forschungen. Es waren auch Bilder und Filme aus drei Familienurlauben darunter, doch fiel mir nichts Ungewöhnliches auf, was meine Frage
»Warum Annabelle?«
auch nur annähernd hätte klären können. Während Markus in dieser Zeit immer noch recht still blieb, kommentierte Gesa die Bilder und auch die Filme, zum Teil recht ausführlich. Insofern diente die Sichtung auf jeden Fall der Bewältigung des schrecklichen Ereignisses. Auch wenn ich direkt keinen Nutzen, sprich Hinweis auf den Täter, daraus ziehen konnte, wurde mir ein lebendiger und nachhaltiger Eindruck vermittelt. Annabelle war ein lebenslustiges, aufgewecktes, hübsches Mädchen mit großen, dunklen Augen, die oft recht neugierig in die Kamera blickten. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern und auch im großen Familienkreis sehr beliebt. Markus war zugezogen, er kam ursprünglich aus dem Rheinland, wo auch noch seine Eltern und Geschwister lebten, Gesa hingegen war gewissermaßen eine Einheimische, ihre Eltern und ihre Schwester lebten ganz in der Nähe von Freiburg. Ich verabschiedete mich wie von zwei Freunden, die ich bereits lange kannte.
Zurück in meinem Auto musste ich heulen, und es dauerte ein wenig, bis ich wieder so weit war, dass ich zu meinem Hotel fahren konnte.
*
Ich wurde durch Kirchengeläut geweckt. Fast erschrocken fuhr ich hoch und sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Verschlafen! Im Schnellverfahren absolvierte ich ein kurzes Gymnastik-Programm, machte mich frisch und nahm ein kleines Frühstück zu mir. Dann fuhr ich wieder zu Annabelles Eltern.
Es war elf Uhr an diesem Sonntag Morgen, und wie gestern öffnete mir Markus die Tür. Diesmal wirkte er recht aufgeschlossen, fast wie ein alter Freund. Der Eindruck vom Vorabend trog also nicht. Gesa kam von oben und begrüßte mich sehr herzlich.
Wir hatten tags zuvor verabredet, heute einige Stätten aufzusuchen, die Annabelle gekannt hatte, so einen Spielplatz in der Nähe – und ihre Großeltern. Gesas Eltern wohnten ein Stück außerhalb von Freiburg in ländlicher Umgebung. Markus fuhr, ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz. So konnte ich mir einen Eindruck von der Gegend verschaffen, ohne viel auf den Verkehr oder auf den Weg achten zu müssen.
Nach einer dreiviertel Stunde hatten wir unser Ziel erreicht. Gesas Eltern wohnten auf einem alten Bauernhof und kamen uns entgegen, als wir gerade ausgestiegen waren. Als ich sie sah, zerriss es mir fast das Herz, und mir wurde bewusst, was Anteilnahme bedeutet.
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