»Als wäre es ihr eigenes Kind!«
Gesas Mutter war eine charmante hochgewachsene dunkelblonde Frau, ich schätzte sie auf Ende fünfzig. Unter normalen Umständen hätte man sie auch auf Ende vierzig schätzen können, doch gegenwärtig waren keine normalen Umstände. Sie hatte sehr viel geweint in letzter Zeit, vielleicht mehr noch als Gesa. Ihr Mann, Gesas Vater, war ein kräftiger Mann und mochte einige Jahre älter sein als seine Frau. Sein dunkles Haar musste offenbar bereits seit längerem einem grauen Ton weichen. Er empfing uns ohne große Worte und geleitete uns hinter das Haus.
Es war ein großes Haus mit einem großen Garten. Wir setzten uns auf die Terrasse. Es war mir fast eine Spur zu intim, so nah dran war ich auf einmal an der Familie. Wir verbrachten den Nachmittag mit Geschichten erzählen, das heißt sie erzählten, ich hörte zu. Sie schwelgten in Erinnerungen. Trauerbewältigung, diesmal hauptsächlich bei den Großeltern.
Irgendwann meinte Markus, er hätte Hunger, und wir könnten doch eigentlich grillen, da kämen wir alle auf andere Gedanken. Die Zustimmung fiel eindeutig aus. Sein Schwiegervater brachte einen Kasten Bier herbei, doch Markus zögerte.
»Sie können ruhig ein Bier trinken«, erklärte ich und sah ihn und Gesa an. »Ich kann zurück fahren, ich muss dann ja eh noch weiter in mein Hotel.«
Es wurde ein trauriger, aber sehr langer Abend, und nach dem sechsten Bier erklärte Markus, dass er den Mörder selbst jagen und ihm sein Herz rausreißen würde, wenn die Polizei ihn nicht finden würde.
Gesa holte ihn zurück in die Realität, indem sie erklärte, dass das die Polizei übernehmen würde, und dann sorgte sie dafür, dass wir bald nach Hause fuhren, schließlich sei es auch schon spät genug. Es war zwei Uhr nachts, als ich wieder in meinem Hotelzimmer war.
*
Der Montag Morgen begann mit einem Anruf von Sven.
»Hey Kathrin! Wie geht’s? Was machen deine Nachforschungen?«
»Guten Morgen, Sven. Danke. Es geht so. Ein wenig müde. Gestern war Familientreffen angesagt, ich hatte viele persönliche Einblicke, doch leider habe ich keine Antwort auf meine Frage gefunden. Annabelle war ein ganz normales Mädchen, die Familie scheint intakt ..., nein, sie ist intakt. Und etwas, was uns zum Täter führen könnte, habe ich auch nicht entdeckt.«
»Bist du denn noch in Freiburg?«
»Ja, im Hotel. Ich will gleich frühstücken.«
»Und dann?«
»Dann fahre ich noch einmal zu Annabelles Elternhaus und werde mit Gesa zu ihrem Kindergarten gehen. Damit begann es schließlich. Annabelle wurde auf dem Weg zum Kindergarten entführt. Vielleicht hat sich der Täter zuvor dort aufgehalten und ist jemandem aufgefallen ..., wer weiß?«
»Das klingt plausibel. Nach allem, was wir wissen, muss er sie ja schon länger beobachtet und ihre Gewohnheiten und das Umfeld gekannt haben.«
»Genau! Und wenn das auch keine neuen Erkenntnisse bringt, werde ich danach nach St. Georgen fahren. Zum Fundort der Leiche. Irgendetwas muss es ja zu bedeuten haben, dass er sie dort begraben hat ..., und wahrscheinlich auch umgebracht.«
»Das denke ich auch. Definitiv.«
»Ja, und was hast du heute vor?«
»Hmm, ich werde mich gleich mit einem Kollegen treffen, der bereits einige Kindesentführungen und Todesfälle bearbeitet hat. Er ist seit über zwanzig Jahren in dem Geschäft. Vielleicht entdecken wir Parallelen zu einem seiner alten Fälle. Einige sind noch immer nicht aufgeklärt, hat er mir gesagt. Anschließend fahre ich ins Polizeipräsidium, dort ist für zwölf Uhr eine Pressekonferenz angesetzt.«
»Aha. Nun, dann können wir uns danach ja wieder austauschen, ich denke, dass es im Kindergarten maximal eine Stunde dauern wird.«
Ich warf einen schnellen Blick auf meine Uhr. »Oh, ich muss jetzt auch los und zum Frühstück, sonst komme ich nachher zu spät. Bis später!«
»Ja, bis nachher! Viel Erfolg!«
*
Ich saß mit Gesa im Büro der Leiterin des Kindergartens. Diese wusste noch gar nicht, was passiert war. Gesa hatte sie am Donnerstag nur kurz angerufen und informiert, dass Annabelle an dem Tag nicht kommen würde. Da sie am Freitag nichts von ihr gehört hatte, war sie davon ausgegangen, dass die Ähles in Urlaub seien. Ihre Mitarbeiterinnen waren ebenfalls tief betroffen, als sie von der schrecklichen Tat hörten. Wir sprachen mit jeder Einzelnen, und auch wenn sich mein Bild von Annabelle weiter abrundete, gab es auch hier keinen Hinweis auf den Täter. Nicht den allergeringsten.
Ich überlegte, ob ich die Kinder, von denen allerdings nicht sehr viele anwesend waren, befragen sollte.
»Vielleicht haben die ja in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt? Vielleicht ist der Täter hier herum geschlichen, und irgendein Kind hat ihn gesehen?«
Doch ich verwarf den Gedanken wieder.
Es war inzwischen nach zwölf Uhr, und wir waren mit der Leiterin wieder allein, als mein Telefon klingelte. »Entschuldigung«, sagte ich zu den beiden und sah auf das Display. Wider Erwarten war es nicht Sven – sondern mein Chef!
Ich nahm den Anruf entgegen. »Guten Morgen, Walter!«
»Guten Morgen, Kathrin! Haben Sie es schon gehört?«
Mein Puls beschleunigte sich. »Gehört? Nein, was denn?«
»Die Polizei hat den Wagen gefunden, es lief gerade über den Ticker. Ich dachte, ich informiere Sie direkt, denn die Angelegenheit nimmt mittlerweile mehr als lokale Dimensionen an.«
»Inwiefern?«
»Bei dem Wagen handelt es sich um einen VW Passat Kombi, schwarzmetallic, Baujahr 2010. Es gibt sie zu Tausenden, insofern war es kein Wunder, dass er nicht weiter aufgefallen ist. Und er wurde vor fünf Tagen in Hamburg gestohlen.«
»In Hamburg?«, unterbrach ich ihn. »Uff!«
»Sehr richtig. Das erklärt den nicht eben sehr schnellen Fahndungserfolg. Doch es geht noch weiter. Der Mann, dem der Wagen gestohlen wurde, ist im Außendienst beschäftigt, es handelt sich um einen Dienstwagen. Er scheidet definitiv als Täter aus, die Polizei hat seine Angaben bereits überprüft, er war die vergangenen fünf Tage in England unterwegs. Und er ist erst heute von seiner Dienstreise zurück gekommen ..., da ist ihm der Verlust ..., der Diebstahl, aufgefallen. Als er sich bei der Polizei gemeldet hat, haben die die aktuellen Meldungen berücksichtigt und dann die Fahndung mit neuen Details ausgeweitet.«
»Und?« Ich spürte, dass das noch nicht alles war.
»Nicht nur der Wagen wurde gefunden, sondern die Spur des Täters anhand von Aufzeichnungen von Überwachungskameras an Tankstellen und Autobahnen rekonstruiert. Demnach ist er am Mittwoch von Hamburg nach Freiburg gefahren, Donnerstag fehlt jede Spur von ihm, aber Freitag ist er in der Nähe von Nürnberg gesichtet worden ..., am späteren Abend. Das erklärt, dass die Fahndung, die letzten Endes auf ein viel zu kleines Gebiet beschränkt war, keinen Erfolg brachte.«
»In der Tat.« Mir wurde bewusst, dass der Täter zu der Zeit, als ich von Berlin nach Stuttgart flog, mir quasi entgegen gekommen war.
»Mit einem neuen Ziel? Berlin?«
»Der Wagen wurde in Sachsen gefunden. In Dresden«, sagte mein Chef.
»In Dresden? Oh!«
»Ja, das ist schon einige Kilometer entfernt von Ihrem jetzigen Ort. Wie weit sind Sie denn mit Ihren Nachforschungen?«
»Ich spreche gerade mit Annabelles Mutter und der Leiterin von ihrem Kindergarten. Ich hatte gehofft, hier vielleicht eine Spur zu entdecken.«
»Ah ja, das ist ein guter Gedanke. Machen Sie weiter, denn den Täter hat man natürlich nicht bei dem Wagen angetroffen. Auch wenn es jetzt einige Fotos gibt ..., aber so wie ich hörte, sind die kaum zu gebrauchen. Und niemand weiß, was er als nächstes vorhat, oder ob er einfach abgetaucht ist ..., nach Osteuropa eventuell. Alles Gute!«
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