Sämtliche Güter kommen aus der DDR mit Bahn oder Auto
Ich wohne mit einem Graubärtigen auf dem Zimmer. Er ist stellvertretender Baustellenleiter. Humorvoll, aufmerksam zuhörend, beweglich. Er bestätigt mir, es gäbe nur zwei Tätigkeiten auf der Trassenbaustelle: Zehn bis vierzehn Stunden arbeiten und Schlafen, wenn man Trinken und Rauchen nicht hinzurechnet.
Das Gewerk „Kultur“ bemüht sich redlich, Abwechslung ins Trassenleben zu bringen, wenn man von den in diesen Breiten unglaublich komfortablen Lebensbedingungen absieht, die von uns als selbstverständlich betrachtet werden. Es gibt einen Singeklub, Malzirkel, eine Bibliothek und sonnabends Disko in den beiden Speisesälen.
Heute sprach ich mit dem schwarzbärtigen langhaarigen stellvertretenden Parteisekretär Heinz. O., Klaus P. musste wegen eines tödlichen Verkehrsunfalls zur Miliz. Anschließend wollte ich zum Leiter des BMK, der aber war zum Rapport. Ich traf seine Sekretärin, eine schlanke kühle Blondine. Als sie hörte, ich wolle auf dem Verdichterfeld in den Brigaden mitarbeiten, äußerte sie Bedenken: Sicherheit, Versicherungsschutz. „Sind Sie Facharbeiter? Dann müssen Sie mit dem BMK vereinbaren, ob Sie als Zimmerer oder Betonierer mitarbeiten können und einen Vertrag abschließen.“ Da der Leiter nicht zu sprechen war, wurde alles auf den anderen Tag verschoben. Deshalb lebe ich momentan vom Beobachten und Betrachten, also vom Gaffen und habe das beschämende Gefühl, Tourist zu sein, streune im Wohnlager umher, fotografiere, möglichst unauffällig, um wenigstens etwas „in der Tasche“ zu haben. Eine Gruppe Arbeiter mit Pressluftmeißel hebt an der Küche für das Regenrinnenwasser einen Graben aus. Sie schuften in blauen gefütterten Jacken, die blauen Schapkas mit der grauen Fütterung auf dem Kopf. Jemand von ihnen ruft: „Hau‘ bloß ab!“ Ich gehe zu ihnen, frage: „Weshalb reagiert ihr so empfindsam?“ „Was heißt: empfindsam? Es ist in Wirklichkeit nicht so, wie es in der Zeitung zu lesen steht. Du musst die Wahrheit schreiben und kein Propagandascheiß.“ „Was gibt es hier schon zu fotografieren? Dieser Schwarzerdeschlamm und wir hier – das ist nicht ermutigend.“
Was soll ich ihnen antworten, was soll ich groß reden? Soll ich ihnen von meinem früheren Beruf in der Eisengießerei erzählen? Dass ich mit ihnen mitfühle, dass ich wegen fehlender Arbeitserlaubnis hier stehe und zuschaue und aus Hochachtung vor ihrer Arbeit, wie sie sich bei der Kälte mit dem zähen Boden abmühen, dass ich ihre Tätigkeit jeder anderen auf der Welt ebenbürtig finde? Was soll ich schwätzen. Ich stehe da, schweige und nicke und kann mir lediglich, wie so oft, vornehmen, keinen Stuss zu fabrizieren.
Das Wohnlager ist eine Arbeitsstadt, ein Arbeitsdorf mit den Wohnzellen, in der Schriftsteller wenig gefragt sind, da Schreibende anderer Kategorien das Vorfeld verdorben haben durch laxe, leidenschaftslose, stereotype und plakative Schreibweise. Im Gegensatz zur „Heimat“ fallen hier diejenigen noch auf, machen sich verdächtig, die nicht mit anpacken. Wie kann man mich auch zwingen wollen, mich behaglich in meinen geheizten Wohnwagen zu setzen, die Füße in Pantoffeln neugierige Blicke durch die Scheibe auf die Arbeiter, die draußen ungeschützt in eisigem Wind bei Minus fünfzehn Grad Celsius Stahlgerüste für Lagerhallen montieren, auf freiem Feld an der Ramme arbeiten, Gräben in den gefrorenen Boden rackern, der kein üblicher Boden ist, sondern eine zähe hartgummiähnliche Masse. Wer will von mir verlangen, genussvoller, vor allem an mich selbst denkender Zuschauer zu sein?
Der Baustellenleiter mit dem eisgrau-meliertem Bart klagt über Seitenschmerzen. Der Arzt kommt, ein blasser schlaffbäuchiger sanfter Mann. Er untersucht, stellt fest, er sei nierenkrank. Er kocht Tee in der Kochecke neben dem Zimmer, reicht ihn seinem Patienten. „Wir werden ins Krankenhaus fahren, ins Labor, Urinwerte besorgen“, sagt er, dort seien sie hilfsbereit, in der Medizintechnik aber dreißig Jahre zurück. Dann versorgt er einen Bauarbeiter, der seit dem Ziehen mehrerer Zähne über neuralgische Schmerzen klagt. Ein anderer Bauarbeiter liege mit perforiertem Wurmfortsatz im Krankenhaus, sagt der Arzt, sei zuvor aber noch mit Bauchschmerzen von Lipezk nach Perwomaiskij und raus zur Verdichterstation gefahren. In den nächsten Tagen käme auch der Zahnarzt her. Zuerst aber käme der Zahnarztwagen mit Turbine, dann Zahnmedizintechniker aus der DDR, um die Anlage zu kontrollieren, anschließend die Zahnärztin und eine Zahnarztschwester.
Der Speisesaal besteht aus zwei Sälen mit einem Zwischenstück für den Filmvorführer, da hier mehrmals wöchentlich Spielfilme gezeigt werden. In jedem der Säle stehen zweimal fünf Reihen Tische ähnlich langer Tafeln, im vorderen (dem an der Küche) stehen sie längs, im hinteren (dem an der Kantine) quer, da er mit seiner Bühnenerhebung als Kinosaal, als Gaststätte sowie als Diskotanzsaal dient. Im ersten Saal genießt man Frischluft, im anderen darf geraucht werden. An der Stirnwand des ersten Saales hängen zwei Glaskästen, der erste mit dem Speiseplan des Tages sowie den Fluglisten der Urlauber für den kommenden Monat, die auch ein beliebtes Gesprächsthema sind. Im zweiten Glaskasten ist der Stand der Planerfüllung zu betrachten. Im hinteren Saal hängt die Kulturwandzeitung mit Angeboten vom Singeklub, vom Mal-und-Zeichenzirkel, mit Diskoterminen und Kinoprogramm. Zurzeit läuft der Film: „Grünes Eis“.
In den beiden Sälen wird gegessen wie in riesiger Familie. Immer trifft man Bekannte, Freunde; Bärtige, nach Diesel riechende Wattejacken, Mädchen aus der Küche, aus den Büros, die Ingenieure, den Baustellenleiter. Es wird geraucht, nach der Essenszeit getrunken. Manch einer liegt dann unter dem Tisch, wird in seinen Bungalow gehievt.
Am Tag nach dem „Kappenfest“ ist an der Wandzeitung zu lesen: „Zimmermannnshut am Sonntag auf dem Kappenfest bzw. auf dem Weg zur Unterkunft abhandengekommen. Ich bitte den ehrlichen Finder den Hut abzugeben bei Heinz in der Baracke 5/4, erster Eingang. Danke.“
Dieser alltägliche Vorfall steht für das Trinken aus Heimweh, Kummer und Alleinsein. Die entferntesten Baracken liegen ja nur zweihundert Meter vom Speisesaal entfernt.
9 Die “Herberge zum Steppenwolf”
So genannt auf einem Brett mit eingebrannten Buchstaben neben dem Eingang auf dem Verdichterfeld in Starojurjewo. Ich gehe zum ersten Frühstück. Es gibt Schmalzstullen und Tee.
In der Herberge zum Steppenwolf
Die Gemütlichkeit der „Herberge“ verdeutlichen folgende Bilder: frisch abgespülte farbige Plastikbecher im Plastikkorb sind aneinandergefroren und tragen Eisnasen. In Fußhöhe herrscht Außentemperatur. Die Köche tragen Rollkragenpullover und Wattehosen unter ihrer weißen Kleidung. Um diese Situation zu erklären, hilft die Klischeewendung, „Trassenbedingungen“ wenig. Vielmehr muss man erwähnen, bei der Küche mit ihrem winzigen Speiseraum handelt es sich um eine MVE, eine „Mobile Versorgungseinrichtung“. Terminologie der Eingeweihten, die sich vor allem in Abkürzungen zeigt von mitunter monströsen Wortschöpfungen, die mir hier von allen Seiten Fragezeichen aufdrängen, bis ich die Kurzsprache beherrsche wie ein neues Alphabet. „WoWa“ an der Wandzeitung heißt Wohnwagen, „WL“ auf dem Schild im Bus versichert uns, wir kämen ins Wohnlager; einem „HAN“ ist man zugeordnet, einem Hauptauftragnehmer. Die Kürzel zumindest lassen bei genügender Erfahrung Raum für eigene Bildinhalte. Hier zumindest soviel: die MVE „Herberge zum Steppenwolf“ ist ein stabiler überdachter Holzschuppen mit den Ausmaßen und Einrichtungen einer Großküche. Einige Zwischen- und Außenwände bestehen aus weißem Perlonfließ, dem gleichen Material, mit dem der Untergrund der neuen Versorgungsstraßen ausgelegt ist. Auch das M der Kürzel wird uns schließlich einleuchten, scheint zumindest für die kalte Hälfte des Jahres zuzutreffen: man sollte möglichst in Bewegung bleiben. So sitzen wir bis Arbeitsbeginn, rauchen, trinken Tee, bewegen die Zehen. Als wir hinausgehen, ist es bereits hell. Aus der Heimat bekannter Qualm sticht in Nase und Augen. Seit Tagen glühen Brikettfeuerketten, den Frost fernzuhalten vom Fundament für die neue, die dritte und endgültige, Küche.
Читать дальше