Ute Freudenberg mit „ihrer“ Pop-Gruppe „Elefant“ fährt im Bus. Ihretwegen wurde die Fahrt organisiert. Die Künstler sollen die Arbeitsfront kennenlernen. Wir steigen vorsichtig die schneeglatten Stufen vor der Kirche hinunter. Sie zupft mich am Ärmel, hält sich fest und stelzt unsicher hinab. „Eine Sängerin kann sich nicht erlauben, ein Bein zu brechen“, sagt sie.
Wir stuckern im Bus über Weg und Feld und mitten im Weiß, fernab von Dorf und Bäumen stehen wir auf dem „Verdichterfeld“ bei Starojurjewo (so genannt, weil hier auf dem ehemaligen Kolchosacker mehrere der alle etwa einhundertzwanzig Kilometer geforderten Gasverdichter entstehen.) Wir treffen auf die Rammbrigade, rotgesichtige Männer in blauen Wattejacken und vereisten Bärten, auf die schwere Dieselramme, auf Stapel von Elfmeterbetonpfählen, schwere japanische Kamatsu-Planierraupen, orangefarbene Wohnwagen. Hier entsteht ein weiteres Wohnlager aus weißen Fertighäuschen. Ein Graben wird gebaggert für die Abwasserleitung: ein Meter Schwarzerde, dann unergründlicher Lehm. Der Graben steht unter Wasser.
Der „Junge Welt“-Reporter J.H. (genannt „Hörnchen“) begleitet uns mit einem Bündel Fotoapparaten vor der Brust. Die Sängerin steht in der Gruppe interessiert neben der Dieselramme, betrachtet die japanische Räumtechnik, den Graben, die Wohnwagen, streichelt den jungen Schäferhund. „Hier spürt man noch Spontanität und Pioniergeist“, sagt sie zu mir.
Dann steigen wir in den Bus und stuckern zurück zum Entladebahnhof für Stückgut, zum Wohnungsbau. Einige Fünfgeschosser, von unseren Arbeitern errichtet, stehen bereits, erinnern an Neubauten in Berlin.
8 Das Wohnlager auf dem Kolchosacker
Der historische Kern dieser Trassensiedlung verschwindet eben: das Gehäuse der eingehausten Bauwagen, in denen anfangs die Küche residierte, wird abgerissen, zerlegt in seine Einzelteile: Balken, Kanthölzer, Pappwände, Spitzdach. Rascher Wandel lässt der Erinnerung kaum Zeit zum Verweilen. Die morgen kommen, haben eine Generation versäumt, sind die “jungschen Kerle”, die “keine Ahnung haben vom schweren Anfang”.
Das Wohnlager gibt nur Unterkunft. Der Zweck allen Bauen und Mühens sind hier Gebäude und Anlagen für Gaskompressoren dreißig Straßenkilometer entfernt bei Starojurjewo.
Wolfgang Vierkant, dem ich auf dem Weg zum Essen begegne, deutet auf einen langen Balken, den Zimmermanns-Kollegen eben aus der Dachkonstruktion schlagen: “Zu viert hatten wir den hochgewuchtet, fünf, sechs Zentner. Im August. - O, ja, das war ein guter Monat.” Den Verdienst meint er, das Wetter, die Stimmung. Wehmut schwingt mit darüber, dass sie vieles nur als Vorausbauten der eigentlichen Projekte errichten.
Der Schreibende, anwesend in zufällig diesem oder jenem Augenblick fühlt sich bei allem Engagement betrübt abseits, nicht teilhaftig dieses Arbeitslebens um ihn herum. Gebaut wurde vor ihm, gebaut wird nach ihm. Was erfährt er schon mehr, als Momentaufnahmen. Nicht einmal zu besonderen Höhepunkten weilt er hier, erlebt hastige Begegnungen, aufflackernde Gespräche, angedeutete Biografien. Dem Neueingereisten werden die fehlenden Monate mündlich überliefert, saftiger als jedes geschriebene Trockenfutter.
Aus der geologischen Karte lese ich, dass wir uns mitten im Schwarzerdegebiet befinden, diese Erde sei tiefbraun durch Humus, fruchtbar und nahezu eineinhalb Meter stark. Alle weiteren Eigenschaften erlebe ich an Ort und Stelle mündlich und sie führen in eine wahrlich chaotische Urzeit des Lagers.
Zuerst musste die kostbare Muttererde abgetragen und umgelagert werden, was heißt, von Raupenschleppern zusammengeschoben, von Baggern aufgeladen, von Kippern fortgefahren. Tausende von Kubikmeter über etliche Kilometer. Erst jetzt auf den beginnenden Lehmschichten, Glina, die bis zu fünfzehn Meter tief in die Erde reichen, durfte gebaut werden. Während der trockenen Jahreszeit schwierig, da der Boden zu Asphalthärte trocknete. Schon schwacher Wind oder vorüberfahrende Autos wehten den feinen Mergel zu Staubwolken auf, dass er zwischen den Zähnen mahlte und die Augen verklebte. Doch es blieb nicht trocken, und der Herbst wurde noch feuchter. Regen hielt sich nicht an der Erdoberfläche, sondern wandelte die verbliebene Schwarzerde, den Lehm und Ton in unergründliche Schlammtiefen.
“Trau keiner Pfütze!”, warnt man die Unerfahrenen.
Mitteleuropäische Kenntnisse von Böden werden zu Illusionen. Erde hat noch lange keine Balken, und Sprichwörter helfen nicht darüber hinweg. Der Boden wandelt seinen Aggregatzustand und auch Ingenieure sinken hilflos bis zum Kinn in ihn hinein. Alle Theorie hilft jetzt nur, wenn sie Knüppeldämme baut, Entwässerungsgräben aushebt, Wege wieder und wieder durch Schotterladungen zumindest kenntlich macht. Der Schlamm wird zur Herausforderung an die Menschen, an die Technik. Laufen darf man vergessen. Gehen ist unangebracht. Schlammwaten als neue Fortbewegungsart setzt sich durch. Eile verfängt sich im mühevollen schnalzenden Vorwärtssinken. Neben den Dieselmotoren der schweren Raupen, der KRAZ-Kipper und Bagger, ist das auffälligste Geräusch jener Flüssigbodenperiode das schmatzende. Mit ihm verbindet sich die Zähflüssigkeit des Arbeitstages, der wie Albdrücken an den Sohlen haftet, sich ans Gummi der Stiefel saugt. Abends, vom Bett aus, hört man die Spätkommenden an den Fenstern vorüberschnalzen, mit den Fingern sich krallend, kratzend an der Wellverkleidung der Wohnbaracken. Man ahnt den Ursprung der Geduld und der Zähigkeit der Menschen dieses Landstriches. Wegekundige für die wenigen hundert Meter sind gefragt. Abkürzungen, unter ihnen leiden die Neueingereisten, enden meist mit jähem Eintunken bis über die Gürtellinie. Etliche finden sich so wieder mit bester Kleidung und zwei Koffer in den Händen. Nur gut, dass weder eine S-Bahn noch eine Buslinie nach Berlin besteht. So mancher wäre auf der Stelle umgekehrt. Auf den Wegen schwappt es schokobraun in die Gummistiefel, neben den Wegen lauern schlammwassergefüllte Gräben. Jemanden allein loszuschicken, ist unverantwortlich: die dunkle zerfurchte Masse sieht rundum trügerisch gleich aus. Man geht besser zu dritt, zu viert, nicht, um den plötzlich Eingesunkenen herausziehen zu können, nein, um einen schweren Wagen zu holen, einen Traktor, eine Raupe, um ein Seil unter die Achseln zu legen und zu ziehen.
Der Filmvorführer, bereits lagererfahren, jedoch jung und spontan, wollte nur mal quer von der Straße zum Kulturwagen, da stak er schon hilferufend bis zur Hüfte im saugenden Erdreich. Zwei Arbeiter kamen mit Schaufeln und schachteten ihn aus.
Ein Koch erzählt: “Es war im Oktober. In den Nächten hatten wir schon Frost. Kurz vor der Essensausgabe zum Abendbrot wollte ich bloß noch schnell mal rüber in die Bude, mir’n Taschentuch holen. Ich kannte den Weg genau, und plötzlich war ich weg: bis zum Kinn, und niemand in der Nähe, der mich hörte. Ich ruderte, strampelte und bekam ein dickes Brett zu fassen. An dem zog ich mich so nach und nach aus dem Dreck. Wer weiß, wie es sonst ausgegangen wäre. Das stellt sich keiner vor. Erzähle ich das zu Hause meinen Kumpels, sagen die: ‚der spinnt‘. Ich dann rein in die Küche, schlammüberzogen und steif vor Kälte, und die wollten mich rausjagen, hatten mich nicht erkannt, und mir klapperten die Zähne. Dann haben sie mich unter die Dusche gezerrt, die Kleider vom Leib gezogen und geschnitten und in den Müllkasten geworfen, mich aufgetaut, frottiert, in Decken gewickelt und rübergetragen in mein Bett”.
Jetzt, zur Zeit der Straßen aus “Februarasphalt” hastet bereits die Warnung durch das Wohnlager: “Wartet nur, wenn das Frühjahr kommt und der Schnee schmilzt ...”
Lang ist’s her. Damals der Sommer und der Herbst vorigen Jahres. Nun wächst um den verschwindenden Altkern wie eine Zwiebel Schale um Schale der moderne, eigentliche, und das Wohnlager stabilisiert sich. Die Küche, zwei Speisesäle mit Verkaufsstelle, zwei Schachtelhallen (wie bei einer Matrjoschka-Puppe, nur zusammenhängend aneinander zu stellen), etliche Reihen Wohnbaracken (mit Bungalowkomfort), die nummeriert sind nach der Folge ihres Entstehens. Da die Zahl der Arbeiter noch immer rascher wächst als die Unterkünfte, stehen Wohnwagen dazwischen.
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