Fritz Leverenz
Immer den Fluss entlang
Erzählungen und Skizzen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Fritz Leverenz Immer den Fluss entlang Erzählungen und Skizzen Dieses ebook wurde erstellt bei
1 Damenbesuch
2 Das Insekt
3 Das Mädchen auf dem Monitor
4 Das Mädchen auf dem Zeltplatz
5 Das Naheliegende und das Schreiben
6 Der Zeitungsverkäufer
7 Die Fahrt nach Jedlovà
8 Die Frau am Fenster
9 Die Hürde
10 Die Musterstrecke
11 Was wäre aus uns geworden
12 Du, mein trunkener Bruder
13 Eine Zufallsbekanntschaft
14 Festvorbereitung in Schwichten
15 Gegen den Strom
16 Das Leben hinter diesem leisen Fingerdruck
17 Im Bett des Prokrustes
18 Immer den Fluss entlang
19 Karpfen
20 Monikas Tränen
21 Nicht Geld, nicht Kaufen oder sonst was
22 Sein Boot
23 Tiefe Wurzeln
24 „… und dennoch tanzt man …“ *
25 Und drinnen lesen sie jetzt den „Nuschelpeter
26 Wanderung in Arnstadt
27 Zärtlichkeit
28 Zufriedenheit
29 Ein schwer zu lösender Fragenkomplex bei der Entsorgung von hellem Sand
30 Die Welt ohne dich
31 Der Weg der Menschen
Impressum neobooks
Die jungen ausladenden Kiefern vor dem Bungalow stehen verschleiert vom milden Licht der Herbstsonne. Die Birke am Nachbarzaun lächelt in rötlichem Gelb. Doch Günter Plinski, der solche Herbstmorgen mag, darf sich diesen Anblick jetzt nicht gönnen. Er kniet auf den Fliesen in der Toilette unter dem provisorisch angebrachten Handwaschbecken und müht sich, die Rohrstücken vom Siphonbogen bis zum Anschlussstück, das zur Sickergrube führt, probeweise zusammenzupuzzlen. Er schwitzt, denn sein berufliches Fachgebiet als Fernsehmechaniker kennt solche groben und zugleich sensiblen Arbeiten nicht. Noch heute möchte er die Installation für Wasser, Abwasser und Armaturen beenden und die Grillparty für den nächsten Abend vorbereiten. Mit seinem Trabant Kombi ist er von seiner Wohnung in der Schönhauser Allee vorausgefahren. Seine Frau und seine drei kleinen Söhne werden morgen mit der S-Bahn, sein vierter Sohn, schon fast erwachsen, wird mit dem Motorrad folgen.
Plinski hört das anheimelnde Nörgeln der S-Bahn. Es klingt so nah, als führe sie durch den Garten. Ein Anzeichen dafür, dass sich das Wetter ändern wird. Schade. Doch es wäre ja noch schöner, sich vom Wetter seine gute Stimmung vermiesen zu lassen. „Immerhin haben wir jetzt die D-Mark, und ich kann zum Baumarkt nach Wilhelmsruh fahren um den Bungalow zu sanieren“, denkt er und singt die Melodie von Mozarts Vogelfänger. Des Erfolges seines Tuns noch ungewiss, lässt er die Melodie nicht hören, singt sie in Gedanken und versucht sie dem Arbeitstakt seiner Hände anzupassen. Die Fernsehwerkstatt, die ihn seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt, hatte ihn und sechs seiner neun Kollegen im Juli wegen mangelnder Aufträge entlassen. Schon im Frühjahr begannen sich erste Probleme zwischen Service und neuer TV-Technik abzuzeichnen. Seine Erwartungen und Wünsche von vor einem Jahr haben sich mit ungewissen Ängsten gepaart und entfernen sich unaufhaltsam von seinen Erinnerungen. Vom Arbeitsamt vermittelt, besucht er einen Weiterbildungslehrgang und hofft, in naher Zukunft in die Verkaufsbranche zu wechseln, und dass alles sein gutes Ende finden werde.
Das erste Mal war er im Sommer, gleich nach der Währungsunion mit der S-Bahn zum Baumarkt gefahren. Auf dem Weg zum Bahnhof konnte er sich vor Freude und Zuversicht kaum bremsen und schritt, so rasch es ging. Er überholte ein Mädchen, das einen Schulrucksack trug und Schritt zu halten suchte. „Sie laufen aber schnell“, sagte es außer Atem, „ich habe noch nie jemanden so schnell laufen sehen.“ „Gehen“, antwortete er, „ich gehe“, und er fühlte sich um Jahrzehnte jünger und zurückversetzt in die Vormauerzeit. Etliche Male ist er seit dem mit dem Trabant, wie er es nannte, zu „Abenteuerkäufen“ gefahren, hat fröhlich wie lange nicht mehr Farbe, Holzlasur, ein neues Toilettenbecken, Armaturen, Wasser- und Abwasserrohre, mit allem Drum und Dran für die Toilette und für den Rohrabzweig zur Sickergrube in den hinteren Garten gekauft; hat Profilbretter für die Veranda und Fliesen für die Küchenecke und sogar ein Toilettenbecken erworben, eine neue Stromleitung gelegt und vorhin die neue Klingelanlage angeschlossen. Nun muss er noch das Handwaschbecken mit dem Schwenkarm festschrauben und dann die Zu- und Abflussrohre, tropfdicht zusammensetzen. Das neue Toilettenbecken steht bereits. Er bestreicht den Außenring der Rohrenden mit einem Spezialkleber, steckt sie behutsam aneinander, stützt sie mit Holzkeilen ab, erhebt sich, in der Enge vorsichtig die Füße setzend, dreht behutsam am Wasserhahn, lässt das Wasser laufen. Atmet auf. Die Verbindungsstellen halten dicht. Heute Abend wäre der Kleber hart. Und er könnte sich zur „Brombeere“ begeben, einem winzigen Gartenlokal in der Summter Straße, wohin er sich mit Heinz Eltermann und Horst Rentscheid auf zwei, drei Bier und einige Kurze verabredet hat. Vielleicht auch holten sie ihn ab. Er musste nur aufpassen, dass er nicht wieder versackte, sonst fiele der Grillabend ins Wasser. Er freute sich kindisch darauf, mit den beiden auf das sanierte Klo anzustoßen und auf die deutsche Einheit, obwohl ihm diese Tatsache noch recht abstrakt erschien, noch von keiner anderen Wirklichkeit bestätigt, als von seinem diffusen Empfinden: Er wusste einfach nicht, wie er sich zu geben hatte. Was man ihm offenbar ansah. Erst kürzlich standen er und seine Frau auf dem S-Bahnhof Wollankstraße. Sie schauten zur Ostseite, schauten zur Westseite, schauten nach der ausbleibenden S-Bahn und unterhielten sich leise, als sie unvermittelt ein verwahrlost aussehender Mann, der auf einer Bank saß, hasserfüllt ansprach: „Blöder Ossi, du.“ Plinski war entsetzt, verblüfft. Was hatte er dem Mann getan? Und woran hatte der erkannt, dass er aus dem Osten kam?
Das vorige Staatsgebilde war fort, und das jetzige spielte sich ab wie ein Theaterstück auf bekannter Bühne mit neuen Kulissen und neuem Vorhang. Täglich hatte er sich fremden Begriffen und Gewohnheiten zu beugen, so dass er sich mitunter wunderte, dass seine Arme, Beine, sein Kopf, sein Denken noch zu ihm gehörten. Er war sich nicht sicher, wie er zu sein hatte, und was von seinem bisherigen Wesen noch galt. Sein Fachwissen wirkte antiquiert, seine Freundlichkeit naiv, er selbst, verfallen wie die alte Ostwährung. Was er aussprach, passte oft nicht mit dem überein, was von ihm an Worten erwartet wurde. Es zählte nicht mehr, und das, was zählte, gehörte noch nicht zu ihm, hatte er früher von weitem bewundert, im Westrundfunk und Westfernsehen.
Das wuchtige Zufallen einer Autotür reißt Plinski aus seinen Gedanken. Alles wandelt sich, denkt er und lächelt, sogar das Zufallen von Autotüren, da er an die widerspenstigen Türschlösser seines Trabant denken muss. Als es kurz darauf klingelt, kniet Plinski unter dem noch provisorisch angebrachten Handwaschbecken und müht sich schweißtriefend das Anschlussstück zur Sickergrube einzupassen. Zuerst glaubt er, Heinz und Horst wollten ihn schon jetzt zur „Brombeere“ abholen und ruft: „Immer mit der Ruhe, Jungs. Moment!“, obwohl ihn von hier aus an der Gartentür niemand hören kann. Er blickt auf die Uhr. Zehn nach drei. Nee, die beiden haben erst um vier Feierabend. Noch einmal klingelt es. „Moment, Moment!“ Der Ton der neuen Klingelanlage, beunruhigt ihn, klingt so hysterisch. Behutsam legt er die Rohrmuffe, deren Verbindungen er eben mit einem Kleber bestrichen hat, auf das Abwasserrohr, erhebt sich ächzend, die Hände verschmutzt und klebrig, drückt die Türklinke mit dem Ellenbogen, geht zum Terrassenfenster des Zimmers und blickt zur Gartentür. Durch die graue verblühte Goldraute und die tiefhängenden Äste der Kiefer schimmert es rötlich, als hätten die Nadeln Feuer gefangen. Er hört das zögerliche aber bestimmte Rufen einer hellen Stimme und sieht jemand an der Gartentür stehen. Eine Frau. Weiter links sieht er eine weitere Frau, die wie suchend am Zaun entlangschlendert. Stirnrunzelnd geht er hinaus, betritt zögerlich die Terrassenstufen und nähert sich dem Zaun. Da haben die beiden Frauen bereits den Garten betreten. Vor dem Grundstück neben dem ungepflasterten Gehweg parkt ein geräumiger beigefarbener PKW. Plinski erkennt das Audi-Zeichen.
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