Fritz Leverenz - Aus den Notizen eines Angepassten

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Den Titel «Aus den Notizen eines Angepassten» entnahm ich meinen gleichlautenden Lesungen 1992 in Köpenick im «Club 17» sowie im «Bürgerhaus Grünau».
Der Titel impliziert den Widerspruch, unter dem Schreibende in der DDR gearbeitet und gelebt haben. Denn wer das Leben unter der Anpassung beschreibt oder davon erzählt, widersetzt sich ihr zugleich.
Die Einschätzung, ein «typisch angepasster DDR-Bürger» zu sein durch den Personalrat, dessen Leiter kurz darauf aufgrund einer IM-Tätigkeit vom Dienst freigestellt wurde, brachte mich 1992 auf den Gedanken, aus meinen Notizen zur DDR-Zeit zu lesen.
Mir geht es dabei nicht um die simple Anpassung, die so gern undifferenziert und oberflächlich, als willfährig und widerstandslos ergeben gedeutet wird – (auf der einen Seite die Willfährigen, Bleibenden, auf der anderen Seite die mutigen Ausreisenden und die mutigsten Mauerüberwinder.) Diese beiden Darstellungen interpretieren am Leben vorbei, erklären weder den DDR-Alltag, noch den weitgehend gewaltlosen Umsturz. Deshalb ja meine Notizen seit vierzig Jahren, deshalb meine kurzen und hoffentlich nicht zu schlecht erzählten Texte, in denen ich zeigen möchte, dass die sogenannte «Anpassung» bei den allermeisten Menschen in der DDR ein oft stiller Widerstand in unzähligen, scheinbar nebensächlichen Alltäglichkeiten gewesen war, der in der Summe mit der Opferbereitschaft der Flüchtlinge und der Ausreisenden letztendlich zu der relativ stillen, und größtenteils friedlich verlaufenden Maueröffnung geführt hatte. Und diese Allermeisten haben es verdient, gerecht beurteilt und in der Deutung der DDR-Geschichte nicht unterschlagen zu werden. Im Interesse eines gesunden Nebeneinander in Deutschland dürfen wir die einen nicht gegen die anderen aufwiegen und schon gar nicht ausspielen.

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Fritz Leverenz

Aus den Notizen eines Angepassten

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Inhaltsverzeichnis Titel Fritz Leverenz Aus den Notizen eines Angepassten - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Fritz Leverenz Aus den Notizen eines Angepassten Dieses ebook wurde erstellt bei

Am Nachmittag, am Abend

Das letzte Zimmer

Der schöne Winter und das Alphabet

Der Tintenfleck

Die Geschichte vom krummen Lindenbäumchen

Ein friedlicher Morgen

Frühjahrsnovelle

Frühlingsanfang

Hundesonntag

Lied der Grasmücke

„Möchten Sie etwas für die Umwelt tun?“

Nahe der Stadt

Traumbilder

Tanjas Bild

Der Erfinder und die Störenfriede

Gespräch am Heiligen Abend

Der Spielzeugverkäufer

Impressum neobooks

Am Nachmittag, am Abend

Er saß auf der Couch, etwas vorgeneigt, als lauschte er. Plötzlich konnte er die Stille hören. Noch an keinem Abend war sie ihm so tief und beruhigend erschienen. Er hörte sie, nachdem auf der Straße ein schweres Baufahrzeug vorübergerumpelt war. Es schien, als näherte sich ihm dieses zärtliche Gefühl hier in der Stille; dieses Gefühl, das er am Nachmittag verloren zu haben glaubte.

Der Schein der Nachttischlampe drang durch die angelehnte Schlafzimmertür. Er hörte Lina in einer Zeitschrift blättern. Sie hüstelte nervös. Er wusste, sie wartete auf ihn. Vielleicht spürte sie seine Veränderung. In den Jahren ihrer Ehe hatte er zu oft vergeblich gehofft, sie käme, wenn er sich einsam fühlte, als dass er darüber hinweghörte. Er konnte jede Nuance ihrer Stimme, ihrer Mimik, ihrer Gestik, ihrer noch so kleinen Gewohnheiten deuten. Meistens war er es gewesen, der sich näherte. Kürzlich in der Straßenbahn hatte eine junge Mutter ihren dreijährigen Sohn aus irgendeinem Grund ärgerlich von sich geschoben, und der Kleine hatte sich nicht wegdrängen lassen, sondern sich mit aller Kraft gegen ihre Beine gestemmt. Er hatte den Kleinen sofort verstanden.

Erst mit den Jahren hatte er Linas Scheu erkannt, mit der sie zu ihm kam, diese Furcht, wie leise Fremdheit, die sie nicht ablegte. Lächelte sie, berührte ihn wie zufällig mit einem Finger, oder setzte sich unaufgefordert in seine Nähe, fühlte er sich geborgen. Obgleich er sich noch immer wünschte, sie näherte sich, streichelte ihn, und er müsste nicht um Zärtlichkeit betteln, fühlte er sich mit ihrer beider Suche zueinander verbunden.

Vor einer Stunde bereits, während er eine Kurzgeschichte von Tschechow gelesen hatte, um sich abzulenken, war er eingenickt. Doch er blieb sitzen. Er konnte jetzt nicht zu Lina, als wäre nichts vorgefallen, obwohl sie schon häufig zu verstehen gegeben hatte, für wie zweitrangig sie es hielt, würde er zu anderen Frauen gehen. Auch darüber sprechen konnte er heute nicht. Ihm schien, er habe dieses Mädchen in Lina verraten, dessen Wesen er mit dem Heranwachsen seiner Tochter verstehen lernte. Er fühlte sich erschöpft, an allen Äußerlichkeiten dieses Abends uninteressiert, als habe er zerrissen, was ihn bislang mit allen Fasern gehalten hatte: Nichts zu tun, was er nicht mit ganzem Herzen tun konnte.

Ellen hatte er zufällig in der S-Bahn wieder getroffen. Sie war klein, dünn, strähnig blond, trug eine kurzärmlige weiße Bluse, einen karierten Faltenrock, aus dem etwas zu gerade weiße Beine hervorsahen. An ihren wasserblauen Augen hatte er sie wiedererkannt und an den schmalen Lippen, die ihr im Kontrast miteinander einen Ausdruck sanfter Ironie gaben. Er hatte sie in der Schulzeit geliebt mit heimlicher Verehrung, mit der Jungen häufig lieben. Jetzt fiel ihm auf, dass er als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger ein Gesamtbild aus wenigen Einzelheiten von ihr besessen hatte, das ihn bis in seine Träume hinein ausfüllte: ihre humorvoll lächelnden Augen, ihre Lippen, die sie zusammenkniff, als scheute sie sich zu sprechen, wie sie dabei ihren Kopf senkte, ihre kindliche helle Stimme, ihre stille Heiterkeit. Und jetzt klebte sein Blick an unwesentlichen Details, die sein jahrzehntelanges Bild von ihr verwischten. Er versuchte dessen Konturen aufzufrischen: Sie mit blondem gescheiteltem Haar, das rechts von einer Spange gehalten, ihr Gesicht freihielt; am Ausgang der Felshöhle in der Sächsischen Schweiz auf das Geländer der Treppe gestützt, dem Klassenlehrer zugewandt, der die Gruppe fotografierte. Er selbst in weiten ausgebeulten Trainingshosen und engem Pullover im Profil, nur Blicke für sie, ihr zugewandt.

Zweimal hatten sie sich im Café "Espresso" am Alexanderplatz, getroffen und waren einmal ins Kino gegangen, wo sie seine Hand gehalten und er sich recht tatenlos auf die Filmhandlung konzentriert hatte. Er konnte es nicht leugnen, seine heutigen Empfindungen zu Ellen ähnelten kaum noch denen aus seiner Erinnerung, dennoch war er ihrer Verabredung ins Strandcafé Grünau gefolgt.

Ellen lehnte halb sitzend auf einem Steinpfosten des niedrigen Holzzaunes und begrüßte ihn lächelnd. Sie trug ein dunkelrotes Kleid, in dem ihr Gesicht noch durchscheinender wirkte als sonst. Ihr Haar trug sie hochgesteckt, sodass sein Blick an ihrem schlanken Nacken festhielt. Das Café, so war auf einem Zettel an der Gartentür zu lesen, blieb einige Tage "wegen Reparatur der Tanzfläche" geschlossen.

"Gehen wir zu mir“, sagte sie, als überraschten sie die Schließtage nicht. Es klang ganz selbstverständlich. Er erschrak, fühlte, wie sein Lügen sich in ihm breitmachte und antwortete nur mit einem Schulterzucken. Weshalb dachte er, ich verspiele jede Sympathie. Zugleich verspürte er nervöse Ungeduld, sie zärtlich zu berühren. Er lächelte gezwungen und blieb wortkarg. Dieser Nachmittag, sagte er sich, ist das Äußerste, worauf du dich einlassen darfst, widersprach ihrer Einladung mit sich unzufrieden, aber nicht heftiger als mit einem mürrischen Gesicht.

Sie überquerten die lange Brücke, fuhren drei Stationen mit der Straßenbahn und gingen auf einem Trampelpfad zwischen Flachgaragen zu einem Altneubau. Während des gesamten Weges blieb er schweigsam. Ellen redete fast ohne Pause von ihrer Arbeit als Drogistin. Er erinnerte sich, dass sie, was damals noch unüblich war, in Oranienburg die Mittelschule besucht hatte, um Apothekerin zu studieren, während er zur Erweiterten Oberschule gegangen war. Im Gegensatz zu ihm war sie konsequent ihren Weg gegangen. Er folgte ihr gedankenverloren.

Vor der Wohnungstür suchte sie einige Sekunden lang an ihrem Schlüsselbund den passenden Schlüssel. In Gedanken spielte er mit einem Vorwand, sich zu verabschieden. Dann aber schloss sie mit entschuldigendem Lächeln auf, trat vorsichtig in den Flur, als dürfte sie ihn jetzt nicht stören. Er folgte zögernd. Wie behutsam sie mit ihm umging, doch schreckte ihre Rücksichtnahme ihn auf wie ein Albdrücken.

In der Wohnung hing der Geruch nach Terpentin, frischer Lackfarbe und Bohnenkraut. Ellen sprach jetzt leise mit ihm und doch ungezwungen. Und während er seine Jacke an den Haken neben der Tür hängte und die Schuhe von den Füßen streifte, antwortete er mit hölzernem Humor, trocken, ironisch, schlagfertig, wie um sich selbst zu ermutigen.

"Komm", rief sie mit leiser Euphorie in der Stimme, die ihn bekümmert durchatmen ließ, "ich zeige dir die Wohnung!" Er trottete hinter ihr her, betrachtete unaufmerksam das Kinderzimmer, begutachtete das Bad mit den drei, an die hellblaue Decke gemalten, Schwänen; lobte die Einrichtung ihrer winzigen Küche, die frisch mit Pariser Blau lackierten Gewürzregale, die Blumenkästen mit Petunien auf dem Fensterbrett, neben denen Farbbüchsen und Gläser mit Pinsel standen. Im Wohnzimmer, einer geräumigen Mansarde standen Korbmöbel und ein gewaltiger gebeizter Kleiderschrank. Ihn interessierte die Wohnung jedoch nicht ernstlich, da er wünschte, sie ginge ihn nichts an.

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