Ein Leben lang erinnerten ihn nun Leute mit dieser pedantischen selbstzufrieden wirkenden Seitfußstellung an diese Osterspaziergänge. Wenn er sie traf, war Ostern, dann läuteten die Glocken, er spazierte durch die Wiesen, zitierte den alten Geheimrat Goethe, und immer blieb die Erwartung, der Vater möchte doch unbefangen mit ihm reden ...
“Die Kreuzung”, sagte er und schob den Kopf dem Fenster zu, als wäre die Starre aufzulösen mit einer Bewegung. “Das Rathaus, da drüben.”
“Ja”, sagte der Vater und brummelte: “Der Schwarze Adler”. Das war ein Restaurant, das er zwei Jahre führte, als er die Kraft nicht mehr aufbrachte, Trompete zu spielen. Mit dieser Gaststätte begann sein Start im Handel. Später übernahmen er und Mutter einen Hauswirtschaftsladen.
“Der Bahndamm”, sagte der Sohn. “Bis zur Veltener haben sie den Wald abgeholzt - für eine Erdgasleitung und für ein neues Stück Autobahn.” In der Nähe des Bahndammes befand sich ihr Garten, den der Vater vor drei Jahren verkaufen wollte, als sich sein körperlicher Zustand verschlechterte. Er konnte sich dann aber doch nicht von diesem Stückchen Land trennen.
Der Vater zeigte zaghaftes Interesse. Er hob den Blick, sah zweifelnd auf die dunklen Scheiben und fragte leise nach den Einzelheiten, so als glaubte er nicht daran, dass es diese Vergangenheit je gegeben hatte.
“Ja, die Straße führt direkt bis zum Krankenhaus”, sagte der Sohn. “Es fährt auch ein Bus vom Bahnhof aus. Wir werden dich oft besuchen. Es ist sehr bequem mit dem Bus.”
Der Vater sah kurz zu ihm hin, und seine Augen waren voller Angst.
Weshalb begann nicht i c h zu reden? Und jetzt sind wir beide hier allein, zu zweit. Das letzte Mal womöglich. Zum letzten Mal allein miteinander. Und der Regen trommelt, die Reifen singen ... Wir könnten uns ansehen, könnten uns trösten, uns Mut zu sprechen. Weshalb hocke ich mit diesem stillen, einsamen Monolog neben dir auf der Pritsche wie mit einem Krampf im Sprachzentrum? Weshalb weinen wir nicht einfach? Weshalb nehmen wir uns nicht an die Hand und weinen. Er fühlte sich unsagbar hilflos, mehr, als der Vater es war. Weshalb nicht? Wir könnten doch ...
In weitem Bogen fuhr der Wagen vor einen beleuchteten Eingang und hielt. Fahrer und Arzt stiegen aus und öffneten die Tür.
“Wir haben's geschafft, Herr Beyerle. Schönes Wetter”, sagte der Fahrer. Mit eingezogenem Kopf stand er unter hochgeklappten Wagentür. “Und meine Tochter und mein Schwiegersohn wollen ab morgen am Krossinsee zelten. Na, prost Mahlzeit.”
Dann halfen sie dem Vater aus dem Wagen. Für den Vater existierte der Regen nicht. Er blickte mit schlaffer Unterlippe zur Tür des Krankenhauses, als suchte er sich an etwas zu erinnern.
Im Haus verabschiedeten sie sich. “Alles Gute, Herr Beyerle”, sagte der Krankenfahrer. Und zum Sohn: “Ich fahre Sie zurück. Darf ich zwar nicht, aber bei diesem Wetter kommen Sie nachts hier nicht mehr weg.”
Das Foyer war dunkel getäfelt und matt beleuchtet. Vom Personal war niemand zu sehen.
“Ich werde uns anmelden”, sagte der Sohn. Seine Stimme kam ihm zu laut vor, so direkt, als hätte sie mit dem Krankenfahrer ein Dolmetscher, ein Vermittler, verlassen. Er fühlte sich so unsicher.
“Du wirst erst spät zu Hause sein”, sagte der Vater wie zu sich selbst.
“Bin ich gewohnt”, erwiderte der Sohn. “Und morgen muss ich erst am Nachmittag in die Redaktion.” Und er dachte betroffen: Jetzt bist du besorgt um mich.
Gern hätte ich dir von meiner Tätigkeit erzählt, dass ich die Sportnachrichten zusammenstelle. Du hattest doch täglich Sportnachrichten erwähnt.
Der Vater strauchelte leicht, und der Sohn fasste ihn unter den Arm, hielt ihn an der Jacke. Schweigend gingen sie einige Schritte hinein in den Vorraum. Sie spürten den Atem des anderen. Nie hatten sie einander so gehalten. Es war halbdunkel. Von der niedrigen Decke strahlte rötliches Licht, und ihre Schritte klangen sehr vorsichtig.
Aus einer Tür hinter dem Tresen kam eine Schwester im rosa Kittel. Klein, derb, flink. Sie rollte einen hölzernen Räderstuhl heran, half dem Vater, sich zu setzen. Der Sohn überreichte ihr den Einweisungsschein, blieb hinter dem Stuhl, hielt den Krückstock.
Er ist so ergeben, dachte er. Wie soll ich jetzt den Anfang finden, mit ihm zu reden?
“Ihr Name”, fragte die Schwester.
“Beyerle”, sagte der Vater beinahe hastig, als wäre er erstaunt, dass sein Name noch gefragt war. “Mit Ypsilon.”
Der Sohn hielt sich an der Rückenlehne.
“In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Herrn?”, fragte die Schwester, an den Sohn, gewandt, ohne vom Blatt aufzusehen.
Sie spricht, als traute sie dem Vater nicht zu, für sich selbst zu reden, dachte der Sohn. Er stockte, zögerte mit der Antwort. Stiefvater? Oder wie sagt man? Das Gesicht begann ihm zu glühen. Wir hatten nie darüber gesprochen. Ich trage nicht seinen Namen, und dies hier ist eine öffentliche Einrichtung. Hier müssen die Angaben exakt sein.
“Das ist mein Sohn”, sagte der Vater mit ruhiger Stimme, als spräche er zu sich selbst.
“Er ist mein Vater”, bestätigte der Sohn rasch, als wäre ihm der Vater bloß zuvorgekommen mit der Antwort. Mein Sohn, hat er gesagt, mein Sohn. Eine tiefe Zuneigung zu dem alten Mann erfasste ihn, dessen Gesicht er jetzt nicht sah. Ein halbes Leben hatte es ihn angeblickt, als schmollte es, von ihm keinen Gehorsam empfangen zu haben. Er blickte auf die Schirmmütze und wiederholte, leise bestätigend: “Mein Vater.”
Die Schwester nickte, sah beide nachdenklich an und händigte dem Sohn den Schein aus. “Wir fahren zum EKG”, sagte sie und ging voraus. Der Vater nahm seine Mütze vom Kopf und hielt sie auf seinem Schoß. Der Sohn schob ihn in den Aufzug, dann einen langen Flur entlang. Nur das Surren der weichen Gummiräder und die trippelnden Schritte der Schwester waren zu hören. Dann die lebhaften Stimmen zweier Schwestern, die mit einem Tablett in einem Zimmer verschwanden. Und den Vater schien es nur noch zu geben als Rädersurren und Gewicht, das mit der Rückenlehne gegen seine Arme drückte.
Vor einem offenen Raum hielten sie. Er half dem Vater hoch und geleitete ihn die wenigen Schritte zu einer mit weißem Laken bedeckten Trage. Der Vater setzte sich.
Eine junge Schwester kam. “Guten Abend”, sagte sie unbewegt. “Machen Sie bitte den Oberkörper frei!” Bei jedem ihrer Worte zitterten ihre dicklichen sommersprossigen Wangen. Sie trug eine kurzärmlige weiße Bluse, aus der blasse fleischige Arme herausragten.
Der Sohn half dem Vater Jacke und Hemd auszuziehen und sah den Körper des Vaters nahe und nackt vor sich. Dieser Körper des Vaters schien ebenso ein Geheimnis wie die erste Hälfte seines Lebens. Diese bleiche geschwitzte Haut, dieser noch feste, aber aufgeschwemmte Leib schienen nicht zu ihm zu gehören. Nur die großen Hände kannte er, die waren nie zu verbergen gewesen und hatten sich ihm eingeprägt wie ein Gesicht.
Der Sohn saß auf einem Stuhl neben dem Vater. Er hatte das Empfinden, sie wären beide hier endgültig der Wahrheit ausgeliefert, einem Zusammentreffen, dem sie bisher ausgewichen waren. Und er glaubte jetzt den Vater zu sehen, wie er wirklich war, als hätte er sich ein Leben lang hinter sich selbst versteckt. Er meinte das Kind in ihm zu erblicken, dieses Kind auf dem Foto, mit ernsten Gesicht und im Matrosenanzug, auf einen Tennisschläger gestützt.
Haben wir die Rollen miteinander getauscht, um so zu versuchen, Worte zu finden? Wir sind uns näher gekommen heute, auf der Fahrt hierher, vorhin bei der Anmeldung. Aber weißt du es, so wie ich es weiß? Oder hofft es nur jeder für sich? Das müssten wir doch über die Lippen bringen, ein Wort nur: Verzeih. Oder einen Satz, vielleicht auch zwei Sätze: Wir hatten immer einander gebraucht, auch, wenn wir es leugneten. Doch wir hatten einander unsere Zuneigung beschnitten, sie uns vorenthalten, starrköpfig, starrsinnig.
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