"Bitte, sag' etwas Liebes!", flüsterte sie mit geschlossenen Augen. Ihm lag auf der Zunge, ihr einige nette Worte zu sagen, sie nicht betteln zu lassen. Doch brachte er kein Wort heraus und strich mit seiner Nase über ihre Augen. Seine Heuchelei sollte diesen Nachmittag nicht überdauern. Er spürte seinen Verrat gegen das kleine Mädchen Lina, gegen das Vertrauen, das die vielen Jahre bedeuteten, die sie mit ihm lebte. Das Erleben, dachte er mit plötzlicher Klarheit, sind persönliche Beschädigungen, man erfasst sie in den Details. Er setzte sich aufrecht und wollte aus dem Bett, sich anziehen. Doch sie hielt ihn umarmt und sagte brummelnd: "Bitte, streichle mich. Du darfst danach nicht sofort aufstehen." Er erschrak. Glaubte sie, er wüsste nicht, wie liebevoll er mit einer Frau umzugehen hätte; er wäre plump, grob und gefühllos? Doch auch jetzt konnte er nicht sprechen, und streichelte sie mit leisem Trotz. "Bei dir fühle ich mich geborgen", sagte sie. Worte, die ihm wohl taten.
"Ja“, sagte er und bemühte sich, nicht ironisch zu wirken. Er küsste Ellen auf die Wange, erhob sich rasch, nahm das Handtuch und ging ins Bad. In der Wanne hockte er sich unter den Wasserstrahl und weinte. Als er aus dem Bad kam, saß Ellen in Unterwäsche auf dem Bett und sah ihn fragend an. Er hoffte, sie würde nicht merken, dass er geweint hatte, ging in den Flur, sammelte seine Kleidungsstücke ein, zog sich an, sagte Belangloses über die Reisstrohmatten, zum Terpentingeruch. Sie trat aus dem Zimmer.
"Entschuldige, ich wollte dich vorhin nicht kränken."
"Ach, das ist es nicht", sagte er.
"Sehen wir uns wieder?", fragte sie und lehnte sich an ihn.
"So der Zufall es will", antwortete er leise. Brauchte sie Worte? Hatte sie seine Leblosigkeit nicht gespürt?
"Du machst es dir leicht."
"Ich weiß nicht, ob 'leicht' das passende Wort ist." Er küsste sie auf die Wange, schob sie sanft zur Seite und ging zur Tür.
Lina war eingeschlafen. Er hörte sie leise schnarchen. Die Lampe hatte sie brennen lassen, obwohl Licht sie beim Einschlafen störte. Er war wieder angelangt in Linas und seiner Einsamkeit, in der sie beide einander suchten, sich so schwer fanden und doch einander hielten.
Lange saß er regungslos. Nie hatte er Stille und Alleinsein als so wohltuend empfunden. Dann, während er sich auszog, hörte er die Stadtnacht: die S-Bahn, den dreisten Lärm später Autos, eines bummelnden Ikarus-Busses und den Wind in den Pappeln am Haus.
(Veröffentlicht in „Die Wüsten Leben“, Erotische Geschichten, Neue Gesellschaft für Literatur, Berlin, 1996; in „Flaschenpost aus Nordost“, Maurine- Radegast, 2004; in „East Side Stories“, Holzheimer Verlag, Hamburg, 2006)
Der Vater saß auf dem Bett und blickte erschrocken vor sich hin in eine unbestimmte Leere, als erlebte er gerade einen bösen Traum. Mit dem rechten Arm stützte er seinen kräftigen aufgeschwemmten Körper und atmete hörbar. Sein Unterhemd hing lappig feucht, und sein dünnes graues Haar klebte ihm wirr am Kopf.
Der Notarzt hatte einen Infarkt festgestellt und war hinausgegangen zum Wagen. Der Krankenfahrer stand unschlüssig im Zimmer, die Hände in den Taschen seines blaugrauen Kittels.
Der Vater erhob sich, stand gebeugt abwartend, hielt den seit Jahren gelähmten Arm an sich gedrückt wie ein unnützes Spielzeug, von dem er sich nicht trennen möchte. Die Mutter und der Sohn halfen ihm, die Arme ins Hemd und in die Jacke zu bekommen und Schuhe anzuziehen. Dann stand die Mutter am Kleiderschrank und drehte die Hände ineinander. Sie hatte diese Minuten seit Langem vorhergesehen, jetzt aber fiel es ihr schwer, zu verstehen, dass ihre Geschäftigkeit hier nicht mehr gefragt war.
Der Sohn hielt den Einweisungsschein für das Krankenhaus in den Händen. Seit Wochen kam er wieder einmal zu Besuch, zufällig. Aber wie viel von den Zufällen waren tatsächlich zufällig? Er besuchte die Eltern häufiger als früher, hatte sich für einen Tag in der Redaktion freistellen lassen. Nun stand der Vater da wie ein Kind, und er empfand das Bedürfnis, ihn zu umarmen, zu trösten. Doch sie hatten sich nie umarmt, und so blieb er, wo er war, steckte ihm verlegen einen Hemdzipfel in die Hose.
Das konnte ja nicht gut gehen, dachte der Sohn, das hält ja kein Herz aus, dieser schwere Körper und die kaputt gerauchten Bronchien. Und er musste daran denken, dass sie beide zu selten offen miteinander gesprochen hatten, als dass sie jetzt miteinander schweigen konnten. Deshalb wollte er reden. Er wollte dem Vater sagen, dass er an ihm seine Festigkeit und seine Klugheit gemocht hatte, dass er wohl sah, wie verändert er war, wie viel weicher und mitfühlender er geworden war ...
“Kommen Sie, Herr Beyerle”, sagte der Krankenfahrer laut und freundschaftlich, als kannte er den Vater seit Langem. Der Sohn betrachtete ihn verwundert. Der Fahrer sprach so wohltuend, dass er sich fragte, ob das die ständige Übung machte oder eine nie versiegende Güte. “Kommen Sie. Wir fahren ein Stück in die Umgebung.” Der Fahrer besaß einen vorspringenden Bauch und wirkte nur wenig jünger als der Vater.
Wären alle fort, dachte der Sohn, wäre ich mit Vater allein, könnte auch ich ihm solche freundlichen Worte sagen.
Sie fassten den alten Mann von beiden Seiten unter die Arme, und der Krankenfahrer sagte: “Das schaffen wir schon, Herr Beyerle. Jetzt spazieren wir erst mal nach draußen. Immer schön langsam. Immer mit der Ruhe.”
Bedächtig gingen sie zur Tür. Des Vaters schlurfender, gehorsamer Schritt hatte etwas Endgültiges, Unumkehrbares. Jede Minute dieses Abends hatte etwas Abschließendes: die Wortlosigkeit der Mutter, die Fürsorge des Sohnes, die Freundlichkeit des Pflegers.
Auf der Schwelle riss der Vater an den Armen, hielt inne und wandte sich um. “Nein! Ich gehe nicht! Lasst mich hier!” Er sah erschrocken zu seinem Bett, zum dunklen Fenster mit dem Kakteenregal, hinter dem der Hof lag mit den kleinen Gärten der Mieter.
“Im Krankenhaus, da haben sie die besseren Mittel, dir zu helfen”, sagte der Sohn mit unsicherer Stimme.
“Da werden Sie von morgens bis abends gut versorgt, Herr Beyerle”, sagte der Pfleger.
Dann schien der Vater sich zu erinnern, wie er vorhin, nach dem Erwachen aus der Ohnmacht, sich entsetzt geäußert hatte über seine Rückkehr ans Licht. “Ich bleibe nicht dort!”, sagte er mit leisem Trotz, und seine dicken bläulichen Lippen zogen sich schmollend zusammen.
“Vatichen, ich besuche dich jeden Tag”, versprach die Mutter.
Mit einem Ruck wandte sich der Vater plötzlich zur Tür, als fiele ihm ein, dass es nie seine Art gewesen war, weich zu werden oder Gefühle zu zeigen.
“Ich besuche dich schon morgen”, sagte die Mutter und setzte dem Vater eine karierte Schirmmütze auf den Kopf. Dem Sohn reichte sie des Vaters Krückstock, steckte ihm verstohlen eine Handvoll Münzen in die Jackentasche und deutete mit den Augen zum Pfleger. An der Wohnungstür verabschiedeten sie sich zerstreut. Der Sohn drehte sich noch einmal um und nickte ihr beruhigend zu. Acht Jahre lang hatte sie ihren Mann gepflegt, und nun stand sie da mit großen Kinderaugen. Jeder von uns hat heute Abend Kinderaugen, dachte der Sohn.
Als sie dem Vater in den Wagen halfen, fielen große Tropfen aus der Dunkelheit.
“Es regnet”, rief die Mutter.
“Ja”, bestätigte der Sohn, “ein schwerer warmer Sommerregen.”
Der Vater saß im Krankenstuhl hinter der Fahrerkabine. Er klammerte sich mit der gesunden Hand an die Armlehne, schwankte aber in jeder Kurve haltlos vor und zurück. Mit großen Augen blickte er wieder vor sich ins Leere.
Der Sohn saß unter dem niedrigen Wagendach halb liegend auf der Trage. Der Barkas federte hart, und er hielt sich am Rohrgestell fest.
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