Nach dem Rundgang verschwand Ellen in der Küche. Er setzte sich auf die Ledercouch und blätterte uninteressiert und nervös in einer Reclambroschüre, die auf dem Tisch lag.
"Was möchtest du essen?", kam es aus der Küche. Um Himmelswillen!, wollte er sagen, nicht auch noch essen! Doch wollte er nicht ungeschickt erscheinen und antwortete möglichst gelassen: "Einen Apfel, bitte."
"Kaffee oder Kakao?"
"Na, meinetwegen, Kakao." Er fühlte sich zu Hause und zugleich von ihr vereinnahmt. Er hatte ihr erzählt, er trinke gern Kakao. Was ging das sie an? Das, was er sonst gern tat, hatte nichts mit dem zu tun, der er hier in dieser Wohnung war.
"Fang!", rief sie sanft von der Küchentür und warf ihm einen Apfel zu. Dann kam sie mit zwei geblümten Henkeltöpfen. Er kaute hastig, saß wie auf dem Sprung. Sie setzte sich mit angezogenen Beinen gegen die Armstützen gelehnt und trank in kleinen Schlucken. Unter ihrem Kleid sahen ihre zierlichen Füße hervor. Ihr Gespräch kam nicht in Fluss, wirkte albern, aufgesetzt. Er redete Belangloses, vermied das Thema "Familie", kam auf Bücher zu sprechen. Ellen sprach von sich, von unruhigen Nächten im Haus. Ein alter Mann aus der Wohnung nebenan wäre kürzlich gestorben. Er hätte an die Wand geklopft in der Nacht und um Hilfe gerufen. Die Nachbarn wären im Treppenhaus zusammengelaufen in Nachthemden und Pyjamas, und jemand hätte den Rettungsdienst alarmiert, da der alte Mann keine Luft bekam.
Dann schwiegen sie. Die Nachricht vom Tod des alten Mannes hier im Haus erschütterte ihn mehr, als er wahrhaben wollte. Nur die Vorstellung von der Versammlung der Nachthemden ermunterte ihn.
"Ein Psychologe würde aus der Stellung, in der wir beide zueinander sitzen, interessante Schlüsse ziehen", sagte sie leicht vorwurfsvoll und massierte mit schmerzvollem Gesicht ihr Bein.
"Nicht nur ein Psychologe", sagte er leise wie zu sich selbst, "auch ich finde uns interessant." Er saß eine Armlänge von ihr entfernt, etwas weggeneigt und sah ihr nachsinnend in die Augen. Vielleicht wäre ihrer beider Zukunft ohne die damalige Traumstörung näher beieinander verlaufen. Ellen stellte ihren Kaffeetopf auf den Tisch, rückte näher, kraulte ihm den Nacken.
Sie saßen an einem Abend im Schein einer trüben Glühlampe auf dem Heuboden, auf dem sie übernachteten, und sangen mit dem Lehrer und seiner Frau Volkslieder. Hinter ihnen betrachteten sich drei Jungen die Landkarte der Umgebung. Am anderen Tag wollte die Klasse zur Felsenbühne wandern. Er saß mit Ellen Rücken an Rücken, und es gab für ihn nichts auf der Welt, als sie beide im Dämmerlicht, der Geruch nach Heu, die Wärme ihres Rückens, der Klang ihrer hellen Stimme, die in ihm summte, ihn ausfüllte und ihn hinaustrug in die Weite seiner noch unbekannten Jahre. Als sich ihm plötzlich der Griff eines Wanderstockes um den Hals legte, ihn nach hinten zerrte. Er fiel mit dem Ellenbogen mitten in die Wanderkarte, die zerriss. Der Besitzer der Karte gab ihm eine Ohrfeige. Er, so brutal aus des Traumes Süße gerissen, holte mit der Faust aus, traf dessen Stirn und brach sich einen Handknochen. So endete der Abend und ihre Annäherung jäh. Während seine Mitschüler am anderen Tag wanderten, legte ihm ein Arzt in Hohenstein die Hand in Gips. Bis in alle Ewigkeit würde er dem Übeltäter die Attacke gegen seinen Hals nicht verzeihen.
Einen Moment lang hielt Ellen inne und fuhr ihm nachdenklich, als würde sie malen, mit einem Finger zwischen Hals und Ohren entlang. Er wünschte, er hätte den Nachmittag hinter sich und sehnte sich doch nach ihren Händen auf seiner Haut. Sie schmiegte sich an ihn. Er saß wie erstarrt und erinnerte sich, dass sie ihm erzählt hatte, seit ihrer Scheidung im Frühjahr vergangenen Jahres hätte sie sich keinem Mann genähert. Nicht einmal tanzen wäre sie gegangen und in Cafés oder Restaurants nur mit einer Freundin. Sie hätte sich wehrlos gefühlt, ihre “Solorolle” erst wieder lernen müssen, die Rolle, Initiative zu ergreifen. Er legte seine Arme um sie und versuchte sie zu küssen. "O", sagte sie überrascht und hielt sanft seinen Kopf. Sie war sehr schlank. Seine Hände begegneten sich ungewohnt früh. Die Wärme ihres Körpers schreckte ihn plötzlich auf. Er löste sich von ihr, ging in den Flur, stand vor den Garderobenhaken und blickte unentschlossen auf seine Jacke. Ellen folgte ihm langsam auf Strümpfen, lehnte sich an ihn.
"Bleib", flüsterte sie ihm ins Ohr und streichelte seinen Rücken. Er schloss die Augen. Es roch nach Flieder und Terpentin. Auf dem Hof schlug jemand die Klappe eines Müllcontainers zu. Sie klammerte sich an seine Schultern. Behutsam, wie aus Höflichkeit, hielt er sie mit den Fingerspitzen. Durch ihr dünnes Kleid spürte er ihre Rippen. Sie knöpfte ihm das Hemd auf, streichelte seine Brust, zupfte an den Haaren und begann, es ihm auszuziehen. Er stand reglos und starrte auf eine bläuliche Grafik neben dem Spiegel. Dann streifte er sich schnell die restlichen Kleidungsstücke vom Körper und stand nackt und etwas unbeholfen vor ihr. Das bisschen Lust, das ihn dazu getrieben hatte, den Nachmittag bei ihr zu bleiben, begann sich in einer weiten Leere zu verlieren. Er fühlte sich nackt bis auf den Grund der Seele. Wie, um sich gegen dieses unangenehme Gefühl zu schützen, nahm er ihre Hände, legte sie auf seine Brust und küsste ihren Hals. Sie knurrte wohlig.
"Du kennst mich nicht“, sagte er, starrte wieder auf die Grafik und sah, dass sie einen kahlen Baum darstellte, "du kennst mich nicht wirklich."
"O, doch", sagte sie, "du hast dich seit damals nicht verändert."
"Den ganzen Vormittag im Unterricht, bei dieser Wärme", sagte er ablenkend. "Ich bin verschwitzt." Er rückte von ihr weg, ging ins Bad, setzte sich auf den kalten Wannenrand. Als er duschte, fühlte er die Situation so aufdringlich vertraulich, dass ihm flau wurde. So deutlich hatte er noch nie erlebt, wohin es ihn treiben konnte, wich er in entscheidenden Momenten von der Wahrheit ab. Umständlich lange trocknete er sich ab, stieg auf Zehenspitzen über den Kokosläufer, das Badetuch um den Körper geschlungen. Ellen stand noch angezogen und mit verschränkten Armen ans Fensterbrett gelehnt und betrachtete ihn nachdenklich lächelnd. Aus dem Rekorder auf einem Eckschränkchen klang leise Panflötenmusik.
"Das Duschen hat mir gut getan“, sagte er und versuchte dabei locker und kraftvoll zu erscheinen. Er dehnte seinen Brustkorb und reckte sich. Betont unbeschwert warf er das Badetuch auf einen Stuhl, kroch rasch unter das dicke Federbett und drehte sich zur Wand. Der kühle Dederonbezug auf seiner Haut ernüchterte ihn. Er schämte sich seiner Nacktheit wie eines geheuchelten Versprechens. Trotz einer neugierigen Lust auf ihren Körper, fühlte er sich müde, entsetzlich fremd, und wollte nur schlafen. Noch gab es die Chance, unbeschadet diesen Nachmittag zu überstehen. Nach kurzem Schlummer würde er aufstehen, verträumt, gähnend, sie würden Kaffee trinken, wirklich miteinander reden, denn keiner hatte heucheln oder betteln müssen, und er würde seine Kindheitsillusion mit in die Jahre nehmen.
Er hörte es rascheln. Ellen stolperte und hielt sich am Stuhl, der über den Boden scharrte. Achtlos warf sie ihre Kleidungsstücke auf einen Wäschekorb unter dem Fenster, ließ das Rollo herunter und huschte hinaus. Minuten später kroch sie zu ihm unters Deckbett und schmiegte sich fröstelnd an seinen Rücken. Behutsam, wie erkundigend, ließ sie ihre Finger über seinen Körper gleiten. Einige Wassertropfen von ihren Schultern fielen auf seinen Rücken und rannen an ihm herunter. Obwohl ihre Berührung ihm guttat, fühlte er sich steif, drehte sich jedoch zu ihr und streichelte sie mit einer Hand. Ihre Haut erschien seinen Fingerspitzen etwas rau. Sie roch betäubend nach einem Fliederparfüm und ein wenig nach Schweiß. Es machte ihn verlegen, sie nicht liebevoller berühren und nicht küssen zu können. Er umarmte sie. Ihre eckigen, etwas hastigen Bewegungen und ihr leises Stöhnen, mit dem sie immer wieder seinen Namen flüsterte, stachelten seine Lust an oder etwas in ihm, das gern Gewalt ausübte. Er presste seine Lippen aufeinander, als wollte er nichts von der Situation in sich hineinlassen. Dann küsste er sie, weil er sie für Augenblicke dafür liebte, wie leicht ihr Körper unter seinen verhaltenen Bewegungen bebte.
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