Fritz Leverenz - Immer den Fluss entlang

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Wie schon in seinen Erzählbänden «Lied der Grasmücke», «Du hoffst, und ich gehe» und «Aus den Notizen eines Angepassten» erzählt Fritz Leverenz in kurzen Texten von Menschen im Alltag der jüngeren deutschen Vergangenheit: von dem ehemaligen Fernsehmechaniker, der noch heute die Installation für Wasser an seinem Bungalow beenden möchte, als er unliebsamen Besuch erhält; von dem NVA-Soldaten, der Lehrer werden möchte, und dem zur Aufnahmeprüfung nicht einmal der Text von «Hänschen klein» einfällt; von dem jungen Mann, der ein kleines fleckiges Foto betrachtet, und der wünscht, er hätte den Vater über seinen Werdegang fragen und der Vater hätte ihm antworten können; von Ronny, den die Gewalt gegen einen Schwächeren nächtelang nach Auswegen und Lösungen grübeln und nicht schlafen ließ …
… von dem alten Mann, der immer den Fluss entlanggeht, da er ihn an die Oder im alten Stettin erinnert.

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„Um Rückgabe vor Entschädigung.“

„Nein, davon habe ich noch nichts gehört. Das sagt mir gar nichts. - Wir haben einen Pachtvertrag mit der Gemeinde.“

„Ja, ja, das galt bis vor drei Wochen. Der Pachtvertrag ist ab dritten zehnten neunzig hinfällig.“

„Das müssen wir erst noch sehen. Sooo einfach geht das nicht ...“

„Noch einfacher, Herr Plinski.“ Die Eigentümerin schaltet sich ein: „Sollten wir vom Kauf zurücktreten, Herr Plinski, können Sie das Grundstück selbstverständlich erwerben. Den Preis werden wir noch errechnen, nach unserer vorläufigen Schätzung dürfte der Verkehrswert im Berliner Umland etwa bei einhundert D-Mark pro Quadratmeter liegen.“

„Sie sind spaßig, Frau Langenfeld, oberspaßig! Woher sollen wir von einem Tag zum anderen dermaßen viel Geld auftreiben?“

„Das ist Ihre und nicht meine Angelegenheit, Herr Plinski.“

„Durch einen Kredit, beispielsweise“, wirft Frau Rosenbach ein.

„Übrigens“, Frau Langenfeld blickt sich um, „das Grundstück erscheint mir für tausend Quadratmeter recht klein. Haben Sie etwa ein Stück davon dem Nachbarn – veräußert?“

Plinski gelingt es nicht so rasch, zu Trauer, Ratlosigkeit und Wut auch noch seiner Entrüstung Platz einzuräumen, ehe er antwortet: „Im Gegenteil Frau Langenfeld, zwei Meter auf der rechten Seite gehören diesem Nachbarn. Die drei Grundstücke waren neunzehnhundertsiebzig falsch vermessen worden, lagen ja seit Kriegsende ohne Nutzer und ohne Zaun.“

„Also, ich weiß nicht“, antwortet Frau Langenfeld und zupft ihren Schal zurecht das die Funken fliegen, „ich war neunzehnhundertzweiundvierzig als Kind mit meiner Mutter hier, da erschien mir der Garten wesentlich größer. Na, wir werden ins Grundbuch schauen und dann nachmessen. - Guten Tag, Herr Plinski, wir wollen Sie nicht länger aufhalten. Sie hören von uns. Wir werden Ihnen die Kündigung zustellen und den Zeitpunkt, zu dem Sie hier räumen müssen.“

Nach dem die beiden Damen abgefahren sind, sitzt Günter Plinski vor dem Panoramafenster, raucht, betrachtet die vielen vertrauten Details im Zimmer, am Häuschen, im Garten – und fühlt sich nahe einer Ohnmacht.

Als es klingelt, schreckt er aus einen Albtraum. Es dämmert bereits. Er muss eingeschlafen sein. Heinz und Horst kommen in den Garten, zur Terrasse. Rufen: „Hallo, Günter!“, treten ins Haus. Heinz duckt sich. Er ist lang und stößt sich fast den Kopf, knipst das Licht an. „Na, ausgeschlafen?“ Horst folgt ihm. Er öffnet eine Flasche Bier, die er in der Hand trägt und reicht sie Plinski. „Hier, alter Junge, kannst schon mal vorkosten.“

Plinski erhebt sich von der Liege, greift die Flasche. „Danke.“ Er freut sich, seine Freunde zu sehen und lächelt müde, fühlt sich wie zerschlagen.

„Feierabend!“, sagt Heinz. - „Wir sahen deinen Trabbi und das Licht am Schuppen ...“

„Hab'n Nickerchen gemacht.“

„Haah.“ Heinz atmet hörbar durch, fährt sich durchs gelockte Haar. „Dein Zimmer riecht wie‘n Fichtenwald. Hast du sauber hinbekommen, ehrlich.“ Er begutachtet die holzverkleideten Wände. „Toll! Sehr gemütlich!“ „Musst die Bretter jetzt nur noch lasieren“, sagt Horst und schaut in die Toilette. „Bist du fertig mit der Baste­lei?“ Er zuckt zurück. „Günter, was ist hier los?“ Jetzt schaut auch Heinz in die Toilette. „Halloo! Wieso ist alles zertrampelt?“ Die beiden Freunde stehen mit fragenden Gesichtern. Plinski setzt die Flasche an den Mund und trinkt. „Ich hatte Damenbesuch.“ Dann zieht er sich eine Jacke über, geht zur Tür und knipst das Licht aus.

2 Das Insekt

Ich sitze unter‘m Pflaumenbaum und schreibe. Eine Fliege stört mich, wie ich so sitze und grüble. Ich schlage sie tot. Werfe sie mit Abscheu, weil ich‘s im Zorn tat, auf den Boden. Im Zorn erhält jede Tat eine neue Dimension.

Wie ich die Fliege so betrachte und über meine Tat nachsinne, kommt eine Wespe und trennt der Fliege den Kopf ab.

Ich bin entsetzt über diesen widerlichen Kompagnon und zertrete ihn.

1978

3 Das Mädchen auf dem Monitor

Vom Bahnhof begab sich Florina durch das Gewühl der Jugendlichen zur Telefonzelle und wartete dort länger als eine halbe Stunde. Doch ihr Freund kam nicht. So ließ sie sich betrübt zwischen Mädchen und Jungen treiben, die außer erfrischenden Plätzen keine bestimmte Richtung zu suchen schienen und wohl nur auf den kühleren Abend mit Feuerwerk und Fackelzug warteten. Der gewittergrünlich gefärbte Himmel schickte vagen Trost auf Linderung der Hitzequa­len.

Florina wurde geschoben von der Menschenmenge, rauchte, nahm mehrere Anläufe, zum Bahnhof hin auszubrechen. Die Unruhe der Stadt jedoch übertrug sich auf sie, hielt sie zurück. So überließ sie sich träumend dem Strom aus selbstversessenen Schritten, Rufen, Gesprächen, Rempeleien, vertrauend auf Zufälligkeiten.

Lachen klang von den Wasserspielen her, die dicht umdrängt, an den Rändern voll besetzt waren. Man lag, saß oder stand, bekleidet in Jeans und Blauhemden, im Wasser oder unter Fontänen. Ihre Körpertemperaturen gesenkt, mischten sich die triefenden Gestalten unter das Gewühl, bis alle Fäden am Körper getrocknet waren. Jede Art von Erfrischung war gefragt, die leiseste Andeutung eines Schat­tens wurde belagert wie eine Oase. Man lehnte an Stämmchen junger Linden, den Kopf unter der winzigen Kugelkrone, oder saß an den Wänden der Marienkirche. Kein Lufthauch. Schwüle. Jeder mühte sich, zu den wenigen Getränkeständen, zur eventuell kühleren Bahnhofshalle, zu den Springbrunnen zu gelangen.

Florina hatte anfangs geglaubt, ihren Freund zu sehen mit einem gewaltigen Strohhut, an der Hand ein Mädchen. Jetzt sah sie ihn im Springbrunnen sitzen, das Mädchen auf seinen Knien. Obwohl sie wusste, dass ihre Fantasie sie belog, stockte ihr mehrmals der Atem. Doch sicher, wie schon häufig, arbeitete er noch schweißgebadet in der Emailliererei, weil ein Kollege der Nachmittagsschicht fehlte.

Unter einem Strebepfeiler des Fernsehturms saßen gedrängt Mädchen und Jungen und sangen Volkslieder, zu denen sie ein junger Mann mit verwegen zottigem Haar aufforderte, der dabei Gitarre spielte. Schonungslos schlug er auf die Saiten und versuchte, die dumpfe Reglosigkeit zu besiegen. Im Takt schlugen seine Zuhörer die Hände auf ihre Schenkel, klatschten, sangen, als spürten auch sie, aus ihren Körpern sei durchaus Begeisterung herauszuklopfen.

Florina war indessen zum Eingang des flachen Glas-Stahl-Baus geschoben worden, vor dem mit Megaphon ein Auktionator unermüdlich kleine Antiquitäten versteigerte. Hier schien sie an der Peripherie des Gewimmels angelangt. Das Drängen hörte auf, man stand. Ein vietnamesischer Chor hatte sich vor den Wasserspielen eingefunden und sang deutsche Volkslieder. Der Auktionator verstummte. Das heitere Lächeln der Vietnamesen, ihr feinstimmiges gebrochenes Deutsch, mit dem sie „Am Brunnen vor dem Tore“ sangen, rührten die Umstehenden, und mit glänzenden Augen klatschten sie, bis das Lied endete.

Florina folgte alsbald einem steten Menschenrinnsal, das in den flachen Bau floss. Die Frau zwischen den Glastüren musterte sie streng durch ihre Brille, als müsste sich das Mädchen erst würdig erweisen, von ihr mit dem Zählwerk registriert zu werden, welches sie mit stolzer Unauffälligkeit in der Hand hielt. Langsam trommelnder Rhythmus empfing sie. Im Sonderpostamt neben der Tür hämmerte ein Sonderstempel Ersttagsbriefe. Dem Postamt gegenüber ein Buchbasar. Hinter einem der Tische kündete eben ein Autor beliebter Schwänke und Volksstücke seine Pfingstmeinung in ein dargereichtes Rundfunkmikrofon und verzierte anschließend Tücher und Bücher seiner Gäste mit seinem Autogramm.

Florina kannte den Namen des Schriftstellers und verharrte. Vor kurzem hatte sie mit ihrem Freund ein Theaterstück von ihm angeschaut. Nun traf sie des Schriftstellers Lächeln. Dieses Lächeln lächelte ganz für sich, galt dem Mikrofon, dem Gedränge vor seinem Tisch und den Ohren, die er vor den Radiogeräten vermutete. Florina aber schien es, als lächelte er nur für sie, dieses Lächeln – mit den großen Zähnen und der unreinen Haut. Sie dachte an den glücklichen Abend nach dem Theaterbesuch. Nun fühlte sie sich betrachtet von diesem Mann, beachtet, angelächelt, und ihr Selbstbewusstsein hob sich. Und so kam es, dass sie dank der gehobenen Stimmung, das schmale Hinweisschild an der Treppe nicht übersah, an der vorüber sie den Raum verlassen wollte. „Wir suchen Fernseh­ansagerinnen. Bewerben Sie sich! Deutscher Fernsehfunk. Außenstudio.“

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