Zweimal las sie das Schild und fühlte sich angesprochen. Ein wenig erblasste sie bei dem Gedanken der zu erklimmenden Höhe, aber schon begann sie, die ersten Stufen zu überwinden. Blanker geriffelter Stahl. Blauer Teppich, sandig. Orangefarbene Schnipsel. Sie ließ das Gewimmel unter sich und die Gedanken an gestern, und steckte ihren Kopf erwartungsvoll in die erste Etage, eine weite ovale Halle. Ein Ventilator mit Hubschrauberrotoren wehte mit sanfter Frische ein Fluidum großer Entscheidungen entgegen. Flüstern. Gedämpftes Sprechen. Sie fühlte sich angelangt in den Wolken. An der Seite zwischen weiten Fenstern das Studio: Kameras, Scheinwerfer, Tische auf denen Schreibmaschinen standen, begrenzt durch ein locker gespanntes Seil.
„Nummer zweiunddreißig bitte in die Maske!“, rief ein schlanker rotwangiger junger Mann mit Bärtchen. Er winkte mit einem Hefter und verschwand neben der Treppe hinter einer grauen Tür.
Aus der Reihe Mädchen vor dem Studio löste sich eine Blondhaarige und schritt errötend auf das Seil zu. In der Nähe der Treppe auf einem Tisch stand ein Monitor, auf dem bald darauf ihr Gesicht erschien: klein, rundlich, mit unstetem Blick. Die übrigen Bewerberinnen und Neugierige sammelten sich davor und vertieften sich in das Wunder, wie ein Mensch, eben noch schlicht und unbedeutend wie sie selbst, in ein ruhmschaffendes Fernsehporträt verwandelt wurde. Das blasse Gesicht der Blondhaarigen aber hatte keine Chance, das engmaschige Netz der hohen Aufnahmekommission passieren und Anspruch auf dauerhafte Verwandlung anmelden zu können. Schmetterlingsgleich irrte ihr Blick durch die bunte Welt des Ateliers, ohne Kontakt zu dem Auge von Millionen Zuschauern. Des Mädchens Haare waren eine Nuance zu blond gefärbt für ihre Pausbäckchen, ihre Mimik, als ginge es über ihre Würde, zu lächeln, bevor das starre Objektiv ihr diese Freundlichkeit erwiesen hätte.
Florina stand unter den Zuschauern, betrachtete das Gesicht auf dem Bildschirm, sah hinüber zum Studio, las wieder und wieder am Aushang die Bedingungen für eine Bewerbung, rieb sich nervös die Hände, ging hinter den Leuten auf und ab, blickte wieder zum Monitor, hörte den Ruf des jungen Mannes, während die Scheinwerfer verloschen und aufflammten, sah die Maskenbildnerin, die eben der Kandidatin „Nummer dreiunddreißig“ das Gesicht betupfte. Nebenan erhob sich gerade die pausbackige Blondine, ging leicht benommen von der Höhe des Ausblicks aus den Studioseilen, bewundert von den Wartenden als eine Eventuell-oder Beinahe-Ansagerin, ein Minutenfernsehgesicht, hinausgeflimmert, drei Schritte in den Äther.
„Nummer vierunddreißig bitte in die Maske!“, flötete der mit dem Hefter und drückte eine neue Bewerberin auf den Drehstuhl. Indessen saß die nächste Nummer zitternd am Beginn dieser Eintagskarriere und füllte einen Fragebogen aus. Florina wendete sich ab, schlenderte am Studio vorüber ins Rund der Halle, besah sich die dortige Plakatausstellung. Sah die Plakate aber nicht, sah immer nur ihr Gesicht auf dem kleinen Bildschirm.
Fernsehansagerin, dachte sie, und später vielleicht auch Schauspielerin! „Ich werde es versuchen“, hörte sie sich sagen. „Ich versuch’s.“
Hinter einer Plakatwand öffnete sie ihr Handtäschchen, betrachtete sich im winzigen Spiegel, blickte resigniert auf ihre Sommersprossen, hob die Augenlider, lächelte spöttisch, färbte behutsam ihre Lippen nach, durchkämmte ihr Haar.
Hässlich bin ich nicht, dachte sie, doch erinnerte sie sich der hübschen Mädchen vom Bildschirm und der vor den Studioseilen, und ihr Mut sank. Als der Ausstellungsrundgang sie zum Studio zurückführte, schritt sie trotzig, ohne nach links oder rechts zu sehen, auf das Sperrseil zu.
Ein Mann in weißem Kittel und Baskenmütze empfing sie am Tisch und erklärte ihr ausgiebig, er sei für sie nicht zuständig, sondern verkaufe für das Solidaritätskonto originale Programmbilder. Er lächelte dieses Lächeln-für-mich-und-für-jeden und blickte durch sie in die Ferne, als säßen ihre Augen am Kinn. Florina kannte den Mann aus ihrer Kinderzeit. Sonntags hatte er sie zur Märchenstunde vom Bildschirm begrüßt. Nun sah sie, dass es diesen Mann in Wirklichkeit gab, dass dieses Schirmbild lebte, und war verwirrt. Sie legte Geld auf den Tisch, erhielt ein Pappbild und ein Lächeln, das diesmal ihr rechtes Ohr zu treffen schien.
Mit dem Bild in den Händen stand sie schließlich am Start dieses unverhofften Neubeginns und erhielt ein Kärtchen mit einer Zahl. Am Nebentisch empfing sie eine freundliche Dame, die Florinas Namen in eine Liste schrieb und sie dann auf den Stuhl neben sich „in die Maske“ schickte. Hier durfte sie den Kopf zurücklehnen, um von einer gestrengen bleichen Frau mit Haarknoten geschminkt, gepudert und frisiert zu werden. Schließlich nahm sie auf dem Drehstuhl vor der Kamera Platz.
Jetzt tänzelte der Rosawangige heran, setzte sich schräg vor sie auf einen Campingstuhl, wies zum roten Punkt unter dem Objektiv: Dort möge sie bitte beim Sprechen hinschauen. Seitlich von ihr flammte Licht auf und degradierte den hellen Tag ringsum zu Grauschatten. Hinter dem Kamerastativ grätschten sich Beine. Der junge Mann klappte seinen Hefter auf, tauchte darin unter mit seinen Blicken und stellte wohlartikuliert eine Reihe von Fragen zu ihrem Leben. Als er sie übermittelt und schüchterne Antworten erhalten hatte, schloss er seinen Hefter und bat sie, irgendein Erlebnis zu erzählen. Er schlug die Beine übereinander und sah interessiert auf seine Finger, während Florina dem roten Punkt stockend und unsicher eine belanglose Begebenheit erzählte.
Dann erhob sich der junge Mann, reckte sich ein wenig und sagte: „Das war’s schon. Bitte warten Sie einige Minuten.“ Er lächelte durch ihr Haar hindurch ins Rund der Halle, strich seinen Schnurrbart und tänzelte mit seinem Hefter aus dem Studio.
Die gegrätschten Jeans, die angewinkelten Arme hinter der Kamera verschwanden. Die Scheinwerfer hinterließen Augenblicksdämmerung. Florina saß jetzt allein. Ihr Gesicht lächelte blass, von roten Flecken übertupft, und ihr Blick hüpfte unablässig von ihren Händen wie fragend auf den roten Punkt unter dem Objektiv. Ein freudiges Zittern befiel sie, das sie zu unterdrücken suchte, indem sie fest die Hände aneinander rieb. Sie schloss lächelnd die Augen und sah sich auf dem Bildschirm: ihr welliges rotblondes Haar, ihre engstehenden blauen Augen, den kleinen vollen Mund, die unter der Schminke verblassten Sommersprossen, sah sich als Fernsehbild. Dann erblickte sie sich umringt von ihren Freundinnen. Man überreichte ihr Blumen, stellte schüchtern Fragen, maß sie bewundernd, warb um sie.
Sie öffnete die Augen und dachte: Ich darf nicht hochmütig werden, hochnäsig. Ich werde bleiben wie bisher. So, als arbeitete ich noch immer in der Bäckerei. Sie konnte sich die Veränderungen, die mit dem neuen Beruf in ihr Leben kämen, nur unklar vorstellen und fürchtete, sich gänzlich zu verändern, ihre bisherigen Freundinnen und Bekannten zu verlieren.
Das Stimmengewirr der Halle hüllte Florina ein wie Traumnebel, als gehörte sie von jeher dazu, als wäre sie nie etwas anderes gewesen als ein Teil dieser gewichtigen Betriebsamkeit.
„Nummer achtunddreißig bitte in die Maske!“, hörte sie wieder die Stimme des jungen Mannes hinter dem Absperrseil. Er winkte jemandem mit dem Hefter und verschwand hinter einer grauen Tür im Betonzylinder inmitten der ovalen Halle.
Florina löste ihre Finger voneinander, stützte sie auf den Stuhl, drehte sich mit ihm verträumt-lässig und zuckte schmunzelnd mit den Lippen. Sie träumte, ihr Freund müsste sie sehen, und ihre Eltern erst. Und sie stellte sich deren verblüffte Gesichter vor, blickte sie vom Bildschirm direkt in ihr Zimmer.
Meine Kolleginnen, dachte sie, werden sagen: Sie war mal Verkäuferin bei uns. Hier, an diesem Platz, hat sie gestanden. Sie ließ zwar hin und wieder ein Blech voller Kameruner oder Kokostörtchen aus den Händen rutschen, weil sie träumte, hat anfangs auch Zucker- und Geleekuchen übereinandergestapelt, aber pünktlich war sie, und die Kassette mit dem Wechselgeld stimmte bei ihr. Wir sagten immer schon, in dem Mädchen steckt mehr als man sieht.
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