Fritz Leverenz - Immer den Fluss entlang

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Wie schon in seinen Erzählbänden «Lied der Grasmücke», «Du hoffst, und ich gehe» und «Aus den Notizen eines Angepassten» erzählt Fritz Leverenz in kurzen Texten von Menschen im Alltag der jüngeren deutschen Vergangenheit: von dem ehemaligen Fernsehmechaniker, der noch heute die Installation für Wasser an seinem Bungalow beenden möchte, als er unliebsamen Besuch erhält; von dem NVA-Soldaten, der Lehrer werden möchte, und dem zur Aufnahmeprüfung nicht einmal der Text von «Hänschen klein» einfällt; von dem jungen Mann, der ein kleines fleckiges Foto betrachtet, und der wünscht, er hätte den Vater über seinen Werdegang fragen und der Vater hätte ihm antworten können; von Ronny, den die Gewalt gegen einen Schwächeren nächtelang nach Auswegen und Lösungen grübeln und nicht schlafen ließ …
… von dem alten Mann, der immer den Fluss entlanggeht, da er ihn an die Oder im alten Stettin erinnert.

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Die Worte der Frauen aus dem Laden, die sie zu hören glaubte, ermutigten Florina. Ich werde mich bemühen, deutlicher zu sprechen, sagte sie sich. Jede Silbe deutlich artikulieren. Und sie spitzte die Lippen und sprach einige Sätze vor sich hin. Das Rauchen werde ich aufgeben, das schadet der Stimme, tut einer Frau ohnehin nicht gut.

Vom weißen Seil her blickten Zuschauer. Eltern deuteten auf sie, erklärten ihren Kindern etwas. Mädchen tuschelten, hoben fragend die Schultern, nickten. Von Zeit zu Zeit bewegte sich durch das ehrfürchtige Flüstern gewichtig hocherhoben ein bekanntes Fernsehgesicht zur grauen Tür oder kam dort heraus.

Florina blickte wieder fragend zur Kamera. Das Objektiv stierte sie noch immer an, undurchdringlich, humorlos, ohne zu zwinkern, schien sie zu beobachten. Ein Fensterchen, durch welches sie jeder sehen konnte. Sie fühlte sich mit einem Mal nackt, begann trotz der Schwüle zu frösteln.

Wo bin ich da hineingeraten? Sie begann an sich zu zweifeln, an ihren Kräften. Man wird mich auslachen. Vielleicht auch bin ich zu still. Man wird mich nicht nehmen. Weshalb sitze ich überhaupt hier? Ronald wird sagen: Kindergärtnerin zu werden für behinderte Kinder, das war dein Traum. Und nun? Du weißt nicht, was du willst.

Florina fühlte sich plötzlich allen Leuten gegenüber, die es gut gemeint hatten mit ihr, undankbar; fühlte sich unbescheiden, als hätte sie ihre guten Vorsätze aufgegeben, nicht so sehr an sich, mehr an andere zu denken, als würde sie sich besonders wichtig nehmen. Sie erhob sich durchatmend, nahm ihr Täschchen, das über der Stuhllehne hing, wollte gehen, eine Mitteilung nicht abwarten. Die hektischen Flecke auf ihrem Gesicht waren verblasst.

Die graue Tür dem Studio gegenüber öffnete sich, und der junge Mann erschien. Inmitten der Herumstehenden unterhielt er sich lebhaft gestikulierend mit einhereilenden Fernsehmitarbeitern, deren Gesichter eine gewichtige Miene zeigten.

Ach, sagte sich das Mädchen, dann war es eben ein Spaß. Niemand erfährt von meinem Erlebnis. Auch Ronald nicht. Später vielleicht einmal.

Der junge Mann hob die Seilsperre und kam auf sie zu, den Hefter unter dem Arm, die Hände einträchtig auf dem Bauch. Und während sein Daumen seinen Handrücken streichelte, bedankte er sich zum siebenunddreißigsten Mal an diesem Tag für das „interessante Gespräch“, wiederholte sein eingefrostetes Lächeln und den Satz: „Unsere Antwort erhalten Sie schriftlich.“

Veröffentlicht in „Lied der Grasmücke“,

Verlag Neues Leben, Berlin, 1987

4 Das Mädchen auf dem Zeltplatz

Das Mädchen sitzt auf der Bank vor den Tischtennisplatten und versucht mit den Zähnen eine Tüte Kakaomilch aufzureißen – immer darauf bedacht, ihren Trägerrock über die braunen Schulterblätter zu ziehen. Er sieht ihr zu und denkt: Ihre hübschen gebräunten Beine, die Füße in Sandalen; ihre zarte braune Haut, die braunen schulterlangen Haare zu einem Knoten gebunden, der ihren Nacken freilässt. Doch weshalb ruckt sie immer wieder mit kaum merklicher Bewegung die Schulter, hilft mit der freien Hand nach, die Träger zu ziehen. Und jetzt sieht er den Grund für ihre scheue Bewegung: ein leichter Buckel. Und er möchte ihr sagen: „Weshalb verbirgst du deinen hübschen Körper?“ Bittet sie im Stillen: „Zupfe bitte nicht an deinen Trägern. Wie leid mir das tut, dieses Zupfen, schreien könnte ich, dass ich dich liebe, gerade dieses kleinen Fehlers wegen, der ja keiner ist, nur eine rein äußere Unvollkommenheit in dieser so „perfekt unvollkommenen Wegwerfgesellschaft“. Was tut das schon, das vergrößerte Schulterblatt, wenn ich dich liebe? Er möchte sie streicheln, überlegt, wie er sich ihr nähern könnte. Und sie zieht immer wieder an den Trägern, ruckt, damit der Rock die Schulterblätter bedeckt.

1986

5 Das Naheliegende und das Schreiben

Am Wochenende fahre ich mit der S-Bahn raus in den Garten, um in Ruhe zu schreiben, bevor die Familie folgt. Doch ich komme wenig zum Schreiben - für zwei Vormittagsstunden am Freitag, und das ist keine zufriedenstellende Zeitspanne für ernsthaftes Arbeiten, da gerät man leicht ins Schludern.

Die meiste Zeit des Tages habe ich mich um naheliegende Dinge zu kümmern, um Arbeiten, die getan werden müssen, die nicht warten können (bis sie sich eventuell zu größerer Unordnung anreichern).

Selbstverständlich muss auch das Schreiben getan werden; um es eleganter zu formulieren: es muss auch geschrieben werden, auch meine Erzählungen können nicht ewig warten, sich stauen in meinem Gedächtnis, bis sie übereinander stürzen, wie alte Kisten und sich gegenseitig bis zur Unkenntlichkeit zerdrücken; doch die naheliegenden Tätigkeiten bilden den Rahmen, das Gerüst des Tages: Haus, Garten, Wohnung, Essen und Trinken, deshalb liegen sie näher. Das Hemd liegt nun einmal näher als der Rock. Die Menschen, die sich um das Naheliegende kümmern, sind ebenso bedeutsam, wie die, die schreibend mit den Gedanken spielen – und beide runden nun einmal das Leben ab.

Die Erzählungen, und das, was zu sagen ich mir vorgenommen habe, wohnen in mir. Sie flüstern mir zu, bedrängen mich, und ich muss sie beschwichtigen, vertrösten auf die Zeit nach den Arbeiten an dem Naheliegenden, die ich tun muss . Dabei weiß ich, nichts liegt mir näher, als das, was ich zu schreiben habe. Es bringt mich in beste Stimmung, lässt mich bei mir selbst sein, mich kraftvoll fühlen. Doch es ernährt mich nicht, kleidet mich nicht und gibt meinem Körper keine Unterkunft.

Im Garten zu ebener Erde, spüre ich, dass mir vieles näher liegt als in meiner Wohnung in der sechsten Etage. Logisch, das liegt doch nahe, könnte man sagen.

Beispielsweise muss ich die bereits zu kräftige Traubenkirsche stutzen, absägen, die vom ungenutzten Nachbargrundstück herüberragt und unseren Schneeballbüschen und jungen Zirbelkiefern das Licht nimmt; ich muss den morschen Pfosten auswechseln, an dem das Gartentor hängt, muss den neuen Pfosten teeren und einbuddeln; muss also sägen, buddeln, schrauben, ehe das Tor wieder fest hängt; muss den morschen Pfosten zum Holzplatz legen. Dort, neben dem Hauklotz und dem Sägebock sammelt sich das Brennholz. Ich säge es mit der Kettensäge, da mir für das andere Ende meiner Schrotsäge eine kräftige zweite Hand fehlt.

Indessen ist die Hausfrau eingetroffen, und auch sie widmet sich dem Naheliegenden (für sie gibt es vorrangig das Naheliegende – das Fernliegende – wie mein Schreiben, ist ihr suspekt und nur naheliegend, wenn sie ein Buch liest, den Fernseher einschaltet, ins Theater oder in die Oper geht). Sie schneidet sich mit einer Gartenschere – der jahrzehntealten – durch die Jasmin- und Forsy­thiensträucher, harkt Laub, verkündet Unmut über das silbrige Pappellaub von Bäumen aus dem Nachbargarten (ein silbriges Blatt glänzte am Morgen auf der Türschwelle), fegt die Plattenwege.

Und am Nachmittag fahren wir mit den Rädern zum Baumarkt, der im Briefkasten ein Rabattkärtchen hinterlassen hatte. Wir kaufen neue Besen, Kissen für die Gartenstühle, sehen uns Holzzäune und Kaminöfen an.

Naheliegend ist auch, dass ich meine Mutter in der Havelstraße besuche. Dieses Haus, in dem sie noch immer wohnt, seit wir Mitte der Fünfzigerjahre aus dem Stolper Weg hergezogen waren, eignete sich mit seinen jetzigen und ehemaligen Bewohnern, an die ich mich noch gut erinnere, für eine Chronik. Es wäre interessant, diese fünfzig vergangenen Jahre nachzuzeichnen. Eine Chronik der Menschen der verschiedenen Häuser und Straßen, in denen wir wohnten.

Die Wohnungstür ist angelehnt. Ich komme durch den Keller, und meine Mutter hörte vom Hof her durch das offene Wohnzimmerfenster meine Fahrradbremse quietschen. Beim Eintreten höre ich sie reden und das Klackern und Schnarren des Kartenmischers, der mit einer Kurbel gedreht wird und die Spielkarten über- und durcheinanderklackert. Ihre neunzigjährige Freundin Johanna sitzt ihr im Sessel gegenüber. Sie spielen Canasta. Johanna hat ihre Operation an der rechten Hand offenbar gut überstanden, die Fäden sind gezogen und nur ein Pflaster am Daumen erinnert an die Wunde.

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