Die Februarstraßen sind vereist, sandbestreut, verschneit, aufgetaut, abermals vereist, sandbestreut. Reger Verkehr herrscht auf ihnen zwischen den weißen Bungalowbaracken, als solche sie auch später vom Oblast (Verwaltungsbezirk) Tambow vorgesehen sind. Fußgänger eilen von und zu den Büros, von und zu den Autos, die nahezu mit jedem Typ vertreten sind: PKW, Deutrans-Speditionswagen, Kipper, Kräne, Jeeps, Busse. Ein Hupen, Hasten, Rutschen, Rufen, Grüßen; - Exterritorium deutscher Arbeitshektik.
Unablässig wird gegraben, geschachtet, betoniert, gerammt, gemauert, gezimmert, gebaut. In wenigen Tagen wachsen aus Stahlträgern und Schaumbeton Wände und Dach einer Lagerhalle mit den Ausmaßen eines mittleren Hauptbahnhofs. Während einem beim Zusehen die Nase vereist, sitzen angegurtet in zehn Metern Höhe Arbeiter rittlings auf einem Träger und verschrauben die Dachverspannung. Andere stehen unten, beobachten sie aufmerksam, und einige hantieren von einer hydraulischen Hebebühne aus.
Wenige Schritte weiter ein schwarzer gähnender Spalt, den ein emsiger Schaufelbagger verlängert. Greift ins weiche (zuvor durch Brikettfeuer aufgetaute) Erdreich, von dort unter die zähe eis- und schneebedeckte Kruste, bricht sie auf: der Fundamentgraben für eine zweite Riesenhalle, an dessen vorderem Teil bereits betoniert wird. Feuerwehrschläuche kriechen dort wie Adern aus der Erde durch den Schnee zu einer Pumpe, die stetig das sich sammelnde Oberflächenwasser absaugt. Arbeiter verteilen im Graben Beton. Vermummt in blauen Wattejacken, über die Ohren gezogenen Schapkas, in Gummistiefeln im Wasser watend. Am Rande des Grabens müht sich ein Arbeiter, gefrorenen lehmhaltigen Sand durch ein Standsieb zu schaufeln und vom Sieb in den Mischer. In der Nähe mit Zeltbahn und weißem Perlonfließ verkleidete Holzgerüste: provisorische Werkstätten für Bagger, Kräne und Wagen.
Wie die Hausfrau, deren rastloses Mühen die Familie großzügig toleriert, wirkt die Küche als nimmer ruhende Speisefabrik. Zahllose Köchinnen und Köche lösen sich ab an Kesseln, Kippbratpfannen, in der kalten Küche und im Geschirrspültrakt, produzieren fünf bis sieben Mahlzeiten von fünf Uhr morgens bis zum „Mittag“ um Mitternacht, das auch an die außenliegenden Arbeits- und Baustellen gefahren wird.
Zum Essen belädt man seine Arme im Vorübergehen oder nach Schlangestehen mit Tellern und Trinknäpfen und jongliert sie im Gewirr von Platzsuchenden in einen der beiden Speisesäle. Beide sind getrennt durch einen Zwischenraum für den Filmvorführer. Im kleinen Speisesaal stehen die Tische zu langen Tafeln gereiht. Man setzt sich auf einen freien Platz, täglich vor neue Gesichter. Gedämpfte Gespräche, Frischluft. Hier wird nicht geraucht. An der Stirnwand zur Küche hängt der Speiseplan des Tages, dargestellt in “Grundsortimenten” an Vorspeisen, Hauptspeisen, Nachspeisen. Die Fachsprache verschont den Esser nicht, macht ihn zum Laienesser, der nicht geringschätzig nur zu „essen“, sondern gefälligst Grundsortimente zu sich zu nehmen hat. An den Seitenwänden Glaskästen mit Zahlen zur täglichen Planerfüllung, sowie Fluglisten der Urlauber für den kommenden Monat. Schönstes Gesprächsthema. Seit zehn Wochen träumt man von dem Datum, nun, nach etlichen Verschiebungen, hat man es vier Wochen lang schwarz auf weiß.
Findet man im kleinen keinen freien Platz, drängt man hinüber zum großen Speisesaal. Das erste, was auffällt: schallende Musik gesteuert aus der Filmvorführerloge, laute Gespräche, Zigarettenqualm. Die Tische stehen schräg zur Wand in Fischgrätenmusterreihen. Hier wird gegessen wie in riesiger ständig feiernder Familie. Immer trifft man Freunde, Bekannte, Bärtige, nach Öl und Diesel riechende Wattekleidung; Neueingereiste mit glatten blauen bügelfrischen Arbeitsanzügen, glatten Gesichtern, ruhelosen staunenden Augen; Mädchen aus Büros, aus der Küche wie zarte Tupfen auf rauer Fassade, mit zärtlich tastenden, grabschenden, spöttischen, sehnsüchtigen Blicken verfolgt.
Grauer Betonfußboden, Fenster mit Decken verhängt, geweißte Wände, die Decke des Saales behängt mit Neonleuchtstäben.
Zum Abendbrot, wenn die Verkaufsstelle auch Bier freigibt, ähnelt die Stimmung mehr und mehr der, die man sich in einer modernen Goldgräberstadt vorstellt. Hin und wieder ein kühler Luftzug. Die Tür steht offen. Niemand vermag sie zu schließen, denn unmittelbar hinter der Schwelle setzt man den Fuß auf einen Eisbuckel.
An einem Tisch putzt Sam Kowalski Gläser für einen „Umtrunk“. Jemand aus der Brigade hat Geburtstag, und er selbst fliegt in einer Woche auf Urlaub, für vier Wochen. Arbeitet ohne Unterbrechung seit vierzehn Wochen an der Trasse.
Das Abendessen geht unmerklich über ins Feierabendtrinken, in eine Kinovorstellung oder in eine Disko. Manch einer ist zuvor schon stark angesäuselt und muss vom Stuhl, und durch das Wohnlager ins Bett gehievt werden.
Speise- und Kulturbaracke in Perwomaiskij
Dialekte der südlichen, vor allem der thüringischen Bezirke, überwiegen, werden durch Trassenjargon überbrückt und durch das hier übliche „Du“. Distanzpronomen sind hier wenig gebräuchlich. Verwendest du es versehentlich, stößt dir die Fremdheit sofort auf. Die Hierarchiepyramide zeigt sich hier (zumindest vom Umgangston) stumpfkegelig, ihre Spitze basisgeneigt. Du hast rasch Kontakt zu schließen, oder findest dein Hiersein als Eigenbrötler schwer.
Deinen Pass gibst du in Verwahrung, besitzt keine anderen dich ausweisenden Dokumente als deine Familienfotos. Dein Hiersein, dein Hierangekommensein sind ausreichende Legitimation, dass man dich kleidet, speist, beherbergt, bezahlt. In Rubel. Er bleibt die einzig gültige Währung für die Zeit deines Aufenthaltes. Selbst für Einkäufe in der Kantine, deren Wände bestapelt sind mit nützlichen wie flüssigen Artikeln, vom Vorhängeschloss bis zum gefürchteten aserbaidschanischen Portwein “Agdam”. Die Längswand wird verstärkt durch eine Mauer aus Bierkästen, die von einer nicht abreißenden Schlange fleißig Dürstender abgetragen, von wenigen Restaurateuren mühevoll in seiner Stabilität erhalten wird. Und die Wand aus “Braustolz-Export” hat dickwandig und aufragend zu bleiben, an ihr lehnt, so höre ich hinter vorgehaltener Hand, die Baustelle. Die Bausteine zur Wand liefern Deutrans-Container in pausenlosen Nachschubfahrten. Die lösen Verwunderung aus und Stolz: „Was alles rangeschleppt wird aus der Heimat: Bier, Straßenplatten, Platten für den Wohnungsbau, Kohlen, eigentlich alles“. Immer wieder höre ich dieses schöne Wort „Heimat“, zerrissen und belastet wie deutsche Vergangenheit und Gegenwart.
Von den Wochentagen ist der Dienstag mit diesem Wort am meisten verknüpft: Er ist Urlaubertag. Unter den Fußgängern des Wohnlagers trifft man heute eine auffällige Zahl Bekannter in fremdartigem Zivil: ohne die loddrige Arbeitsschapka, schlank, ohne Wattespeck, ohne blaue Arbeitshosen, ohne Filzstiefel, ohne Gummistiefel. Nach dem Abendessen im kleinen Speisesaal (derweil im großen ein Film läuft: „Plattfuß am Nil“) mit Koffern, Bier und Wein, den Pass zu empfangen. Unüblich gründlich gereinigt und rasiert, führen sie unübliche Gespräche mit unüblich gelöster Heiterkeit. „Zu Hause erst mal’n Glas frische Milch und ‘ne Semmel“, sagt Volker. „Erst mal?“, fragt Sam Kowalski spöttisch. „Kann dir die Reihenfolge aufzählen: erst mal ..., dann noch mal ..., dann wieder und dann die Koffer reingeholt“. Reisefiebernd schleppen sie schließlich ihr Gepäck vor zur Wache, wo der Bus mit dem Reiseleiter sie bereits erwartet, und sie zum Bahnhof fährt. Tags darauf werden Urlauber zurückkehren und Neue einreisen: steter Gesichtertausch.
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