Dieter rechnet: „vierzig plus fünfunddreißig – genau!“ Es erfreut ihn, wie gut das hinhaut - „das macht - fünfundsiebzig. Nu, glar, Ärich.“
Ich schlürfe meinen Kaffee und notiere interessiert schweigend. Eine Stunde sitzen wir so, und sie sehen nicht ein einziges Mal zu mir. Mich lenkt das ab vom Zuhören und ich grübele über ihr eisernes Nichthersehen. Doch wie Erich so redet, so schöpferisch gelaunt, so spielerisch leicht seine Gedanken auf Dieters Papier einen Platz finden sieht, weiß ich, er beobachtet mich aus den Augenwinkeln: Soll der Schriftsteller mal ruhig in die Heimat tragen, welch kraftvoll-schöpferischer Parteimann ihm an der Trasse begegnet ist. Umfassend analytisch steckt er mit gehobenem Blick den Rahmen ab und nähert sich überraschend vorstoßend den eigentlichen, den lebendigen Unterpunkten, den zu erarbeitenden Tatsachen: „Erschtens: zur Vorbereidung Verbündete sammeln, erläudern, welche Objegte, weshalb, bis wann und so weiter. Mitgliederversammlungen der Bardei, der FDJ. Zwätens: Bobularisieren im ‚Drassenecho‘, aber so, dass gäner einschläft beim Läsen. - Ausschreibung für junge Dalente in Musik, Lyrik, Prosa. Einsatz des Disko-Mobils ...“
„Nu, glar, Ärich.“
„Drittens: Wer ist bedeilicht? Das wirft noch eenmal große Fraren auf. - Zum Beispiel, nehmen wir an: Sterne-Objekt eins, bedeilicht sind die und die Gewerge, Leude vom erschten Spadenstich, die längst in der Heimat sind, wenn das Objekt übergäben wird.“
„Nu!“
„Dann die Urgunde – bei der Übergabe, was muss da alles hinein? Dann zweisprachig, in Russisch und in Deutsch, möglicherweise durch unsere Regierung übergeben an die SU und so weiter. - Und da is noch än Hagen: Wir brauchen än Lied! Wer schreibt den Dext, wer die Melodie?“
„Ja, ja, is glar, Ärich, das is wichtig. Än Lied. Ich habe da schon äne Idee.“
„Und äne ährenamtliche Drubbe schaffen, und än Ährenbuch einrich-ten...“
„Nu, glar, Ärich.“
6 Gespräch mit der FDJ und dem Leiter Kultur
Hartmut S., Leiter Kultur an der Trassenbaustelle, redegewandt, freundlich mit Schnurrbärtchen und Kinnbart. Er sagt, er „käme von der Musik“, von der Disko. Sein formvollendetes höfliches Auftreten, bereitet mir beinahe Mühe, mit ihm zu reden: Nur schwer komme ich zwischen sein flüssiges und Gern-reden.
Er erzählt mir unter anderem, er fliege in wenigen Tagen nach Berlin, zu dem und dem Schriftsteller und dem und dem Liedermacher, um mit ihnen ein Trassenlied zu schaffen.
Klaus, untersetzt, wohlgenährt und Manfred, rötlichblond mit Brille bilden den FDJ-Stab. Sie sitzen in einem anderen Fertighaus. Ich suche sie auf, um mich vorzustellen und fühle mich bald ein wenig benebelt. Wir trinken am Morgen schon zwei Bier, dann Kaffee, zwischendurch frühstücken wir. Manfred sagt einen wichtigen Satz: Auf der Baustelle offenbare sich eine Grundschwierigkeit: die Leiter kämen aus der DDR und könnten „hier draußen“ nicht mit den Menschen arbeiten. Seien es von „zu Hause“ entwöhnt. Dort gehe es immer nur von oben herab. Hier aber falle das ökonomisch schwerer und sogleich offensichtlich ins Gewicht, wenn die Produktivkraft Mensch ignoriert, weitgehend übergangen wird. Aus diesem Grund sind bereits etliche Leiter abgelöst worden.
Auf dem Weg zu meinem Bungalow halte ich am Heizcontainer. Der Heizer, vierzig Jahre alt, sieht mit dem graumelierten Bart älter aus. Ich glaubte sein Alter nicht, fragte etwas später nach seinem Geburtsjahr, nach seiner Familie: Er ist verheiratet, hat drei Kinder; zwei Jungen sind in der Lehre, der dritte kommt in diesem Jahr zur Schule.
Er sei seit September hier. Anfangs habe es kein Wasser gegeben, und acht Wochen lang mussten sie sich von Konserven ernähren. Drei Jahre werde er an der Trasse bleiben, eventuell auch vier. Er finde es sehr langweilig hier. Bereitwillig erläutert er mir die Heizanlage, den Filter. Sie laufe vollautomatisch – mit Dieselöl, verbrauche vierzig bis fünfundsechzig Liter pro Stunde, heize das Wasser bis auf dreiundneunzig Grad Celsius und schalte sich dann aus. Der Tank steht auf erhöhtem Fundament einige Schritt neben dem Container, fasse zehntausend Liter.
Ich sitze in der Nische des Fertighauses vor dem Zimmer und notiere vom heutigen Tag. Bin im Zimmer des stellvertretenden Baustellenleiters einquartiert. Er wird vorerst die Baustelle leiten, weil der bisherige Leiter mit Nierenschmerzen „nach Hause“ fliegt. Man traut der sowjetischen Medizin hier nicht viel zu.
Der Boden vibriert, nebenan im Zimmer klirren leise Gläser. Ein Zug fährt in der Nähe vorüber. Das Wohnlager hier liegt nur wenige hundert Meter von der Bahnlinie entfernt. Mitten im Schwarzerdegebiet. Vor dem Bungalow feiner, unter Schritten knirschender Schnee. Minus fünfzehn Grad Celsius. Im Waschraum kein Wasser. Im Wohnungsneubau gegenüber unserem Wohnlager verlegen Arbeiter neue Rohre. Ich gehe frühzeitig zu Bett – ohne zu Duschen. Gegen dreiundzwanzig Uhr fahre ich hoch durch polterndes Lachen und laute Gespräche. Feierabendablauf im Bungalow. Ein Bauleiter hat Zimmerleute zu einer Runde Bier aus der Kantine in sein Zimmer eingeladen auch Gäste aus anderen Bungalows. Schlagermusik, lautes Reden und trinken. Sie lachen, erzählen sich Witze, Frauengeschichten, lärmen, als wären sie allein im Haus, als gäbe es nicht diese papierdünnen Wände. Ich stehe auf, sehe nach dem Wasser. Es fließt wieder. Ich dusche, wasche mein Hemd, lese. Gegen ein Uhr flaut der Lärm ab. Ich schlafe ein.
7 Umzug von Lipezk nach Perwomaiskij
Heute Morgen fahren wir bereits um sechs Uhr dreißig ab – mit einem Barkas B 1000. Es ist noch dunkel. Kuno fährt, ein großer sympathischer ruhiger kraftvoller Zittauer, mit roter Pudelmütze auf seinem drahtigen Kraushaar dessen untersetzter nicht zu breiter Körper mich an Jack Londons „Seewolf“ Wolf Larsen erinnert.
Die zweihundertdreißig Kilometer nach Lipezk führen über Mitschurinsk. Die Straße ist einfacher zu befahren, weil eisfreier als die andere Strecke. Den ganzen Weg über das gleiche Bild, taue ich mir mit der Hand Klarsicht an die vereiste Scheibe: links wie rechts der Straße ein spärlicher kahler Baumstreifen vor horizontweiten weißen Feldern und vorn, durch die Windschutzscheibe, das seit zwei Stunden unverändert geradlinige Betonband – an den Rändern verschneit. Vereinzelt tauchen Fußgänger auf irgendwoher aus der weißen Ebene, vermummt in Pelzkragen ihrer Pelzjacken und Schapkas, oder Frauen mit grauen Tüchern um Kopf und Hals, nur ein Stückchen Gesicht dem Eiswind ausgesetzt. Dort eine Gruppe Frauen und Männer. Sie möchten in die nächste Stadt: Mitschurinsk. Ein PKW hält, drei Frauen steigen ein, die Männer müssen warten. So fahren sie per Anhalter. Jeder, der kann, nimmt Fußgänger in seinem Wagen mit. Wir haben einen Platz frei, fahren vorüber. Sicherheit geht vor. Wer bezahlt die Kosten, wenn der Mitfahrer Schaden erleidet? Eine Anweisung der Baustellendirektion besagt, sowjetische Bürger nicht per Anhalter mitnehmen.
Gegen zehn Uhr treffen wir in Perwo ein. Ich melde mich in der Passstelle bei der rundlichen Blonden mit den gütigen Augen an, der ich ihr Temperament, mit dem sie mich begrüßt, nicht zutraue; hole Bettwäsche vom „Gewerk Dienstleistung“ („Wir sind ein eigenes Gewerk.“). Deshalb erhalte ich in einer anderen Bekleidungskammer eine Arbeitsschapka, Leder-Filzstiefel und einen grauen wattierten Arbeitsanzug: „Zu welchem Gewerk gehörst du?“ „Gewerk eigentlich nicht so sehr: Zur schreibenden Zunft.“ „Aha! Zur „Kultur“, Bereich „gesellige Organe“ (Umschreibung für gesellschaftliche Organe.)
Ich beziehe meinen Bungalow, wechsle die Kleidung. Dann fahre ich mit einem Bus der „Kultur“ zu Brennpunkten des hiesigen Bauabschnitts: Verdichterfeld, Wohnungsbau, Entladebahnhof. Zum Verdichterfeld sind es vom Wohnlager aus etwa achtundzwanzig Kilometer. Von der Hauptstraße ab durch Staroseslawino, einem kleinen langgestreckten Ort mit Schulneubau und einer gewaltigen russisch-orthodoxen Kirche aus roten Ziegelsteinen mit imposanten Kuppeln. Sie wirkt auf mich im Kontrast zu den Holzhäuschen fremd und kalt. Ein älterer Mann kommt eilig, als wir aus dem Bus steigen, öffnet die grüne Eisenpforte und die hölzerne Außentür und das Vorhängeschloss vor der Innentür. Wir werfen kurz einen Blick ins Kircheninnere.
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