Erleichtert fahre ich mit den beiden wichtigen Unterschriften zum Stadtbezirksschulrat nach Köpenick. Der betrachtet die Schreiben, sagt: „Alles klar. Gratuliere. Wir können ja tauschen“, und unterschreibt seinerseits. „Und - wenn Sie zurück sind, vereinbaren wir eine Lesung über ihr Trassenabenteuer hier im Rathaussaal. - Ihr Gehalt läuft unverändert weiter.“
Für diesen Tag bin ich gereizt, müde und zum Zerreißen aufgeregt, hatte nebenher eine Schapka gekauft und feste Stiefel. Bis übermorgen muss ich meine Sachen zusammen haben. Am Abend beginne ich zu packen. Die Familie ist verblüfft: „Schon übermorgen?“
Am anderen Morgen fahre ich ins Jugendwohnheim und lege der Leiterin die Freistellung vor. Sie ist mürrisch, muss den Dienstplan ändern, fühlt sich zu Recht übergangen. Wir trinken Kaffee, essen Kuchen, dann verabschiede ich mich.
Am Abend packe ich Koffer und Rucksack und spreche mit meinen Kindern über Berufsberatung und Berufswahl, da sie in den Winterferien Köpenicker Betriebe besuchen werden. Später ruft noch ein Jugendfreund vom Zentralrat an: am nächsten Morgen soll ich mich um acht Uhr mit meinem Gepäck bei ihm, Unter den Linden, einfinden, ich werde von dort zur Passstelle und anschließend zum Flughafen gefahren.
Am Donnerstag, den 20. Januar 1983, bin ich um acht Uhr mit Koffer und Rucksack bei „Harke“ im Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Er hatte sich mir vorgestellt: „Ich bin Harke von der FDJ“. Mit ihm und der jungen Frau von der Passstelle werde ich in einem „Wolga“ zum Polizeipräsidium gefahren, wo ich meinen Pass erhalte. Ich kann es noch immer nicht glauben: Zum ersten Mal besitze ich einen Pass, den ich jedoch nach der Reise zurückgeben muss. Unterwegs rede ich mit „Harke“ über mitzunehmende Materialien und stelle fest, dass ich meinen Personalausweis noch bei mir trage. Also fahren wir auf dem Weg zum Flughafen bei mir zu Hause vorbei.
Der Flug, IF 606, ist für halb eins vorgesehen. Ich soll mich neunzig Minuten vorher einfinden. Mein Ticket sei an der Hauptkasse hinterlegt unter dem Stichwort: „PKM Leipzig, Flug nach Moskau“. In Moskau würde der Kollege H. vom Flughafen, mir die Fahrkarte für die Fahrt um zwanzig Uhr nach Lipezk übergeben. Und nach meiner Ankunft dort soll ich mich beim Leiter Kultur Hartmut. S. anmelden.
Auf dem Weg nach Schönefeld erzählt „Harke“ von Dreharbeiten zur Erdgastrasse mit Studenten und Fritz-Martin B. von der Hochschule für Film und Dramaturgie.
Auf dem Flughafen Schönefeld werde ich durch einen Mitarbeiter der Trassenbaustelle darüber informiert, ich sei von der Flugliste zu streichen. Ich rufe sehr aufgebracht die Leitung in Leipzig an - ein Drei-Mark-Gespräch. Dort sagt man, das sei ein Irrtum, ich sei lediglich von Jefremow nach Lipezk umgebucht worden. Also, schleppe ich in aller Eile das Gepäck zur Abgabe und eile anschließend mit meinem Handgepäck zur Kontrolle. Um elf Uhr stehe ich mit Arbeitern, die zur Trasse fliegen am Durchlass. Mit einigen treffe ich in Moskau im Restaurant und im „Knoblauchzug“ wieder zusammen. Wir stellen unsere Gepäckstücke auf das Fließband, erhalten unsere Bordkarte, stehen dann im schmalen Gang bei der Grenzkontrolle. Die Abfertigung durch den Zoll zieht sich in die Länge. Wir stehen in Schlange. Dem Grenzbeamten schiebe ich den Pass unter der Scheibe zu. Er checkt mich schon mal optisch durch, stempelt meinen Pass, und reicht ihn mir nach Ausfertigung eines kleinen Formulars zurück. Und jetzt erst beginnt das Warten. Die Arbeiter spötteln: „Rückt doch die Waffen raus! Lasst sie nicht so lange suchen.“ oder: „Einzelabfertigung - aus Höflichkeit.“
Dann stelle ich mich mit meinem Handgepäck in eine Schleuse neben der Tür. Nach aufforderndem Summton schreite ich hindurch und plötzlich schrillt eine Klingel. Ich zucke zusammen, gehe reumütig, ertappt auf den Blaugrauen mit dem strengen Blick zu, der etwas dicklich, x-beinig mich mit unbewegter Mimik mustert, mit einem Blick, der nicht mehr sucht, sondern sogleich erkennt an meinen linkischen Gebärden, hölzernen Bewegungen, den bemüht selbstsicheren Schritten, an meinem unsteten Blick. Sein schlaffer lascher Blick, tastet mich gelangweilt ab, bevor seine Hände es tun, mir unter den Mantel gleiten, die Haut entlang in die unmöglichsten vermeintlichen Verstecke. Und ich stehe da, bang, der Sobald-aber-noch-nicht-Passagier, der Noch-Verdächtige. Ich nehme meine Tasche aus der Schleuse, stelle mich auf die am Boden vorgemalten Füße vor dem riesigen orangenen Durchleuchtungsgerät. Auf der anderen Seite der Zöllner. Nun ist meine Tasche an der Reihe. Ich stelle sie in das Gerät. Der Zöllner betrachtet den Bildschirm, sieht mich unbewegt an und fragt: „Haben Sie ein Messer in der Tasche?“ „Richtig“, sage ich, „ein Taschenmesser.“ „Das gehört nicht ins Handgepäck.“ „Ach, was!“ „Keine spitzen Gegenstände.“ Ich gebe ihm das Messer. Er steckt es in eine Tüte, auf die ich meine Adresse zu schreiben habe. „In Moskau holen Sie es sich von der Stewardess. Nun kommen Sie bitte zur Personenkontrolle.“ In einer kahlen grauen Kammer muss ich meinen Ledermantel in die Ecke hängen, mich in die andere stellen. Dann sind sie da die schlaffen Blicke mit ihren Händen. „Vorsicht!“, sage ich, als er sich meinen Rippen nähert, „ich bin kitzlig.“ Er weicht einen halben Schritt zurück. „Wollen Sie mir drohen? - Noch dürfen Sie umkehren.“ „Nein, nein, eher lache ich mich hier kaputt.“ Und er tastet an meinem Körper entlang, unangenehm, schmierig, findet geheime Körperzonen, die ich selbst noch nicht kannte. „Wissen Sie, wo Sie da hin greifen?“, frage ich. „Ich sage es Ihnen: Voll in die menschliche Würde.“ Er guckt etwas genervt, entlässt mich aber schließlich mit guten Wünschen für den Flug.
Um halb zwölf Uhr sitze ich mit den anderen Durchleuchteten und Betasteten auf ledernen Sesseln im Flughafenrestaurant. Stewardessen in ihren knappgeschnittenen dunkelblauen Kostümen, geleiten eben Passagiere von der Landebahn in den Kontrollvorraum, oder geleiten sie nach der Durchsage auf Deutsch, Russisch und Englisch zu den Türen aus stoßsicherem Glas, die sie nach sich aufmerksam verschließen.
Eine Gruppe aus der SU, Schapkas auf dem Kopf, trifft ein, ziehen ihre Mäntel und Pelzjacken aus, setzen sich. Eine brünette schlanke Mutti trägt ihre Schönheit durch den Raum, zieht ihren kleinen Sohn an der Hand mit sich und verteilt Glutblicke über die Köpfe der mutmaßlichen Bewunderer durch die Scheiben hinaus aufs Rollfeld, als interessierte sie nichts dringender als ihr Sohn und der graue Beton mit den Metallvögeln. Ein klarer kalter Wintertag. Sonne. Dazu die monotone geschult leidenschaftslose Stimme der Ansagerin. Ein junger Vietnamese mit Schirmmütze setzt sich neben mich, spricht mich auf Russisch an: er fliege nach Sofia, Bulgaria. „Aha. Ich fliege nach Moskau.“ Damit sind meine noch in der Schule recht üppigen Russischkenntnisse erschöpft. Er redet noch eine Zeit lang auf mich ein - langsam und deutlich, aber das hilft meiner Zunge auch nicht. Wir zucken uns gegenseitig mit den Schultern zu, lächeln und schweigen dann.
Zahlreiche junge Leute nehmen Platz in der Sesselreihe, gelassen wie auf dem Weg zur Arbeit auf dem Bahnsteig oder an der Bushaltestelle. Später treffe ich sie wieder, erst in Moskau, dann auf der Trassenbaustelle.
Um zwölf Uhr dreißig die Durchsage: „Die Passagiere des Fluges IF 606 werden gebeten, sich zum Ausgang Nummer fünf zu begeben.“
Eine Stewardess lässt uns hinunter auf das Rollfeld. Dort wartet DAS Erlebnis der letzten Jahre auf mich: mein erster Flug. Und die Mauer rückt aus meinem Bewusstsein. Ich dränge nach vorn, laufe, überhole, stehe unter den Ersten an der Gangway, möchte am Fenster sitzen. Die Gangway hoch. Hinein. Erste Enttäuschung: es ist hier enger als im Bus. Links und rechts in Zweierreihen angeordnete Sitze. „VOR den Tragflächen“, sagt jemand, „da wackelt es am wenigsten.“ Mein Sitzplatz liegt ÜBER den Tragflächen. Neben mir das doppelscheibige Bullauge. Fleckenbesprenkelt. Ich putze es. Stimmengewirr der Arbeiter, einer Familie. Ein Ehepaar in den Vierzigern mit zwei kleinen Jungen. Die Frau tut immer wieder so, als sei das Flugzeug ihr tägliches und einziges Verkehrsmittel: „Sieh, mal, Mutti, der Tankwagen!“ „Ja, ja, - der kommt immer, bevor ein Flugzeug abfliegt.“
Читать дальше