Ich stecke vorsichtshalber die Hände in meine Hosentaschen und umfasse die Bergkristalle, um meine kleinen, züngelnden Wutblitze unter Kontrolle zu bekommen. Dass alle paar Meter dunkle Schatten meinen Weg kreuzen, hilft mir nicht wirklich dabei, mich zu entspannen. Sie tauchten auf, sobald ich unseren Wald verlassen hatte, und je weiter ich laufe, umso mehr werden es. Ich versuche sie auszublenden, so wie Kitty es mir gezeigt hat. Ich brauche ein wenig, doch dann schaffe ich es, nicht auf jedes dunkle Zucken im Augenwinkel zu reagieren.
Als ich endlich die Straße erreicht habe, in der Carmens Wohnung liegt, habe ich mich wieder etwas beruhigt und durch einen gesummten Ohrwurm auch schon seit Minuten keine Schatten mehr Jaulen hören. Die Sonne lugt schon über dem weit entfernten Horizont empor und färbt den östlichen Himmel orange, als ich nach meinem Handy greife und Carmens Nummer wähle.
Es klingelt mehrere Male, während ich unter ihrem Balkon stehe und nach oben schaue. Dann endlich geht Licht an und im nächsten Moment nimmt sie ab.
„Ja?“
„Hey Carmen, ich bin´s, Scarlett.“
Das Rascheln von Bettwäsche ist zu hören, dann ein Seufzen. „Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
„Es ist kurz vor fünf. Ich stehe vor deiner Haustür. Lässt du mich rein?“
„Warte… Was? Was ist passiert? Hast du Stress mit Chris? Nein, oder? Oder doch?“
„Lass mich bitte rein, dann erzähle ich dir alles.“
Wenige Minuten später öffnet sie die Haustür und tritt mir in einem rosafarbenen Seidenbademantel entgegen. Selbst jetzt, wo sie gerade eben aufgestanden ist, sieht sie perfekt aus. Ihre zarten Wangen sind leicht gerötet, das lange blonde Haar ist zu einem unordentlichen Dutt oben auf ihrem Kopf gebunden und aus ihrem Dekolletee lugt weiße Spitzenwäsche hervor.
„Ach du liebe Güte, Scarlett!“, begrüßt sie mich und mustert mich aus großen Augen von oben bis unten. „Komm rein, um Himmels Willen. Rein mit dir!“
Sie wirft die Haustür hinter mir zu und scheucht mich die Treppe hoch, als befürchte sie, einer ihrer Nachbarn könnte mich sehen.
„So, nun erzähl, was ist passiert?“, fragt sie, sobald wir ihre Wohnung erreicht haben. „Ich schmeiße erstmal die Kaffeemaschine für uns an, ich brauche jetzt dringend einen Kaffee. Also, was ist passiert?“
Ich folge ihr in den Küchenbereich und lehne mich mit der Hüfte gegen die weiße Arbeitsfläche. Jetzt, wo ich bei ihr bin, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist so viel passiert, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben! Ich bin gestorben, wiederauferstanden, habe meine Mutter verloren, weil ich nie geboren wurde, bin zum Paradoxon und somit zur Mitternacht geworden und habe mich mit meinem Gefährten gestritten, weil der denkt, ich würde ihn als Wolf nicht so sehr lieben wie als Mannwolf.
„Oh man, wo fange ich bloß an“, seufze ich und reibe meine Stirn.
„Setz dich erstmal hin“, sagt sie und schiebt mich weiter ins Wohnzimmer, wo sie mich auf ihre graue Couch platziert. „Fang ganz am Anfang an. Was ist passiert, wann ist es passiert und wer war alles dabei? Ich will alles wissen, von Anfang an!“
Ich nehme meine Tasche von meiner Schulter und stelle sie auf den Fußboden, während Carmen eine Duftkerze nach der anderen auf dem gläsernen Couchtisch anmacht.
„Habe ich dir schon von der Organisation namens Libelle erzählt?“, hake ich nach und beginne dann zu erzählen. Ich lasse nichts aus, weder die Ghula noch den Inviolabilem-Zauber und den Grund, warum ich ihn überhaupt angewandt habe. Ich erzähle ihr von Ebraxas Zaballa, der Liberalen Elite Legion und was mein Vater damit zu tun hatte. Als ich bei dem Punkt angelangt bin, an dem der Leiter der Libelle mich und Chris tötet, wirkt Carmens Gesicht wie vor Schock versteinert.
„Ihr seid… gestorben? So richtig gestorben? Ihr wart tot, im Sinne von tot ?“
Ich presse die Lippen zusammen und nicke. „Ja, mausetot, mit Sarg und allem Drum und Dran.“
Sie stellt ihre Kaffeetasse ab und rückt näher an mich heran. „Und wieso hat mir keiner Bescheid gesagt? Hast du mich denn nicht als Notfallkontakt irgendwo eingetragen? Ich meine, man hätte mir doch Bescheid sagen müssen, ich bin immerhin deine längste und engste Freundin!“
„Ehrlich gesagt, bin ich froh darüber, dass man dich nicht kontaktiert hat. Unser Team hat die Polizei um Diskretion gebeten, doch Elviras ehemaliger Kontaktmann von der Polizei hat es irgendwie doch erfahren und sie informiert.“
„Oh nein!“ Carmen schlägt die Hände vors Gesicht. „Nein, oh man! Das muss ein Schock für Elvira gewesen sein, ich mag es mir gar nicht vorstellen!“
„Eben. Und genau deshalb bin ich froh darüber, dass man dich nicht informiert hat. Es reichte schon, dass Elvira das erleben musste. Außerdem waren wir ja nicht wirklich tot, oder zumindest nicht für lange Zeit.“
Sie nimmt ihre Hände wieder runter und schaut mich aus traurigen Augen an. „Wie ist es, tot zu sein? Gibt es sowas wie einen Himmel? Hast du sowas erlebt? Oder kannst du dich an nichts mehr erinnern?“
Für einen kurzen Moment denke ich an die sieben Hexenseelen im Limbus, doch ich verbiete mir den Gedanken daran sofort wieder. Ich darf und werde nicht über sie sprechen, ihr Friede soll nicht gestört werden. „Da durch meinen Zauber klar war, dass wir wieder zurückkehren, war ich weder im Himmel, noch in der Hölle. Ich war in so einer Art Zwischenwelt.“
„Hattest du Schmerzen? Konntest du die Schusswunde noch spüren? Oder waren alle Schmerzen weg?“
„Ich hatte keine Schmerzen mehr. Das Sterben an sich war sowieso nicht schlimm. Es wurde erst schlimm, als meine Seele wieder in meinen Körper zurückging und ich in einem Sarg wach wurde!“
Carmen quiekt und zuckt zurück. „Nicht dein Ernst! In einem Sarg? Du bist im Sarg wieder aufgewacht?“
Ich erzähle ihr von meiner Panik und wie ich mich aus der Holzkiste wieder befreien konnte. Dass ich danach Chris aus seinem Sarg geholt habe, ein Auto kurzschloss und mit ihm zusammen durch das Portal zu Robertas Schloss floh, wo vier Heilerinnen ihn mit Räucherungen zu wecken versuchten, aber leider vergeblich. „Und dann hat Ebraxas Zaballa ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt und ich wusste, dass ich mich entweder für immer verstecken muss, oder aber selbst mit meinem Kopf zu ihm gehe.“
Carmen legt den Kopf schief und zieht die Oberlippe kraus. „Häh? Was? Wie soll das denn funktionieren? Das geht doch gar nicht!“
„Doch, das geht“, antworte ich stolz. „Zuerst habe ich ein Double von mir erschaffen, eine Art Klon meiner selbst, allerdings ohne Seele. Das hat Darius dann geköpft und ich bin in den Körper von Randolf, Robertas Werwolf-Liebhaber geschlüpft und habe Zaballa meinen Kopf gebracht.“
„Moment, Moment! Warte mal!“, unterbricht Carmen mich. „Roberta hat einen Werwolf als Liebhaber? Und Darius hat kein Problem damit? Und was sagst du da, Darius hat dich geköpft?“
Ihr verwirrter Gesichtsausdruck bringt mich zum Schmunzeln. „Ja, hat sie. Und nein, Darius hat kein Problem damit. Und ja, er hat mein Double geköpft.“
Ihr Mund klappt auf und zu, dann schüttelt sie mit dem Kopf. „Das ist die verrückteste Geschichte, die ich je gehört habe, soviel ist sicher! Und dann hast du Randolfs Körper benutzt? Wie geht das denn?“
So oberflächlich und einfach wie möglich versuche ich ihr zu erklären, wie meine Seele von Randolfs Seele Huckepack genommen wurde und wir den Kopf meines Doubles beim Leiter der Libelle abgegeben haben und als Belohnung die Dschinn-Lampe erhielten.
„Eine Dschinn-Lampe? So wie bei Aladin? Mit drei freien Wünschen und so weiter?“
Ihre begeisterte Miene erlischt, als ich ihr erkläre, was es mit Dschinns in Wirklichkeit auf sich hat. Ich erzähle ihr, wie meine Tarnung aufflog, als Blitze aus Randolfs Händen schossen und wir danach in den Kerker gesperrt wurden, wo ich meine Mutter gesehen habe und nur mit der Hilfe eines Druiden wieder herauskam.
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