Das Druidikum und die spezielle Kräutermischung in der Räucherschale öffnen die Tore zu den Seelen der Druiden in diesem Zelt. Wir fassen uns alle an den Händen und ich lasse meine Seele auf die Reise gehen. Jede Druidenseele berühre ich nur für eine Sekunde, und dabei versuche ich nicht zu viel von ihrem Wesen zu sehen, denn das erschöpft mich nur zu sehr. Es reicht, wenn meine Seele ihre Seele berührt. Ich muss mich vollends konzentrieren, darf keinen Druiden übersehen. Bei manchen sind die Seelen solch tiefdunkle Löcher, dass ich mich in ihnen leicht verirren könnte, doch das darf nicht passieren. Nichts und niemand darf dieses Ritual stören, keiner die Kette oder meine Konzentration unterbrechen, denn sonst war alles vergebens. Erst wenn ich reihum alle Seelen berührt habe, fährt meine eigene wieder in meinen Körper hinein und wir können uns loslassen.
Das ganze Ritual dauert vielleicht zehn Minuten, danach sind zehn weitere Druiden zu Druidenhexen geworden und ich kann mich ausruhen, während alles für das nächste Ritual vorbereitet wird.
Auch wenn es nur eine Sache von zehn Minuten war, brauche ich danach meist eine Stunde Schlaf. Ich schlafe hier mehr als das ich wach bin, und seit einigen Tagen ist es ausschließlich Evanna, die mich weckt, mir etwas zu Essen oder zu Trinken bringt und dafür sorgt, dass ich alles habe, was die Insel hergibt.
Sie hält das Zelt auf und reicht mir die Hand. Ich ergreife sie und lasse mich von ihr in die frische Luft zerren. Sie hält mir eine aufgeschlagene Kokosnuss hin und ich trinke gierig den Saft daraus, auch wenn ich von seiner abführenden Wirkung weiß, aber ich brauche die Vitamine und Mineralstoffe nach dem Ritual dringend.
Wie all die Male zuvor auch taumle ich danach zu dem Bett, das einstmals Chris´ und meine Liebeshöhle war, mich jetzt aber nur noch an Erschöpfung, komatösen Schlaf und seltsam prophetische Träume erinnert. Evanna hat um das Bett herum Palmwedel aufgestellt, die mich vor der Sonne abschirmen, und auf dem Bettlaken steht eine hölzerne Schüssel mit kleingeschnittenem Obst bereit.
Ich bedanke mich bei ihr, esse hastig das Obst und falle danach beinahe ohnmächtig in die Kissen.
So geht es noch viele Male, bis ich irgendwann den Überblick über die Tage verloren habe. Evanna zählt herunter, wie oft ich noch das Ritual vollziehen muss, doch zu Anfang deprimiert mich die Zahl nur, also lässt sie es wieder sein. Erst als ich mich den letzten fünf Ritualen nähere, zählt sie wieder für mich herunter und meine Stimmung hebt sich wieder. Ich nehme mir vor, die letzten Rituale bis spät in die Nach hinauszuziehen, sodass ich in wenigen Stunden endlich wieder nach Hause gehen kann. Die Aussicht auf meinen Gefährten, mein eigenes richtiges Bett und einen guten Vanille-Latte erfüllt mich mit Vorfreude.
Als es dann endlich soweit ist und ich alle Druiden zu Druidenhexen gemacht habe, lasse ich es mir nicht nehmen, als erste durch die Wandschranktür zu schreiten. Seit Wochen schaue ich gefühlt jede Stunde zu dieser verheißungsvollen Tür am Strand, und nun kann ich endlich hindurchtreten.
Mit zitternden Fingern greife ich nach dem Knauf und drehe ihn auf. Kühle, trockene Luft strömt mir entgegen und ich sauge den heimeligen Duft von Holz, Wald und gerösteten Kaffeebohnen tief in mich auf. Dann trete ich endlich wieder in die Freiheit hinaus.
Es dauert noch rund eine Stunde, bis all die Druiden ebenfalls die Insel durch den Wandschrank hindurch verlassen haben. Als sich die Lichtung mit ihnen füllt, bin ich froh, dass Roberta und ich den Zauber um den Wald gelegt haben und somit kein Mensch ihn betreten kann. Vor lauter Druiden kann man den ganzen Wald nicht mehr sehen!
Ich ziehe mich in die Küche zurück und stelle die Kaffeemaschine an. Sie ist noch warm von meiner letzten Benutzung, obwohl die nach meiner Zeitrechnung über vier Wochen her ist! Zwischen meinen Zehen klebt noch Sand, genau wie in meinen Haaren, unter den Fingernägeln und sogar in meinem Mund! Ich kann es kaum erwarten, mich unter die Dusche zu stellen, doch zuerst muss ich etwas essen, das nicht auf Bäumen gewachsen ist!
Im Kühlschrank werde ich nicht fündig, da wir alles aus ihm für unsere letzte Tour herausgenommen hatten. Doch im Wohnzimmerschrank entdecke ich zum Glück noch eine Schachtel Pralinen und eine Tüte Mini-Bretzel, die ich mir unter den Arm klemme und schon auf dem Weg zurück in die Küche eine große Handvoll in meinen Mund schiebe.
Als mein Vanille-Latte endlich fertig ist, nehme ich den ersten Schluck und verbrenne mir dabei die Zunge, doch das ist mir egal. Mein Körper braucht das Koffein, ansonsten schlafe ich hier gleich im Stehen ein!
Ich esse und trinke, bis mir schon fast übel wird, wobei ich von einem Fenster zum nächsten tapere und Ausschau nach Chris halte. Mein Brustbein kribbelt, was mir verrät, dass er ganz in der Nähe sein muss. Aber da die Druiden den ganzen Wald für sich eingenommen haben, kann ich ihn nirgends entdecken. Er muss mitbekommen haben, dass wir wieder zurück sind. Zumal in der realen Welt keine Zeit vergangen ist. Irgendwo dort draußen ist er, noch immer aufgebracht, weil ich mit den Druiden wochenlang allein auf der Insel war. Doch nun ist es bereits geschehen und es bringt nichts, noch länger wütend deswegen auf mich zu sein. Ich habe meine Arbeit getan und bin zurück. Er musste dabei nicht eine Sekunde auf mich verzichten.
Nachdem ich genug gegessen und getrunken habe, schleppe ich mich die Treppen hinauf, nehme eine lauwarme Dusche und falle danach, ohne mich anzuziehen oder abzutrocknen, in unser gemütliches Bett. Der Geruch von Chris haftet noch an den Laken und es fühlt sich beinahe so gut an als wäre er wirklich bei mir.
Als ich wieder aufwache, weiß ich zuerst nicht, wo ich bin. Schon wieder hatte ich einen dieser seltsamen Träume, die mich bereits auf der Insel heimsuchten. Es sind besondere Träume, in denen ich selbst gar nicht vorkomme. Der von dieser Nacht war besonders intensiv: Ich träumte von einer mächtigen Hexe, die jemand anderen in Stücke riss und dessen Körperteile auf allen Kontinenten verteilte!
Der Schreck sitzt mir noch in den Gliedern, als ich die Augen öffne. Es ist stockdunkel und bis sich meine Augen daran gewöhnt haben, denke ich, ich sei noch auf der Insel. Erst als ich die Tannenwipfel aus der Fensterfront heraus sich gegen den dunkelblauen Nachthimmel abzeichnen sehe, erkenne ich, dass ich zum Glück wieder zuhause bin.
Ich taste neben mich, wo ich einen warmen, nackten Oberkörper erfühle. „Chris“, flüstere ich erleichtert und im selben Moment knippst er das Licht an.
„Hey“, raunt er und hebt seinen Arm an.
Sofort folge ich der Einladung und schmiege mich an seine Seite. Die Erleichterung, ihn endlich wieder in die Arme zu schließen, lässt mich verstummen und löscht all die furchtbaren Traumbilder aus meinen Gedanken. Ich will ihm nicht sagen, wie lange ich weg war, wie lange ich ohne ihn auf dieser dämlichen Insel ausharren musste, umgeben von nichts als Sandflöhen, Druiden und Kokosnüssen! Ich will einfach nur bei ihm sein, seine Nähe spüren, seinen Duft einatmen und seine Haut an meiner spüren.
„Du hast mir gefehlt“, sagt er plötzlich und sein warmer Atem rinnt wie Wasser über meine Kopfhaut.
„Ich war in der realen Dimension doch gar nicht lange weg“, antworte ich schläfrig und drücke einen zarten Kuss auf seinen Brustmuskel.
Er holt tief Luft und sein Brustkorb dehnt sich, dann bläst er sie mit einem Seufzer wieder hinaus. „Ich spreche auch nicht von der Zeit auf der Insel im Wandschrank. Seit Wochen hetzen wir von einem Fall zum nächsten und haben dabei kaum Zeit für uns selbst.“
Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue an ihm hoch. „Ich weiß“, gebe ich zu, hebe meinen Arm und streiche über sein stoppeliges Kinn.
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