„Weil du deine Macht nicht teilen willst. Nicht einmal mit mir“, sage ich rau. Eigentlich sollte mich der Gedanke nicht überraschen, aber irgendwo in mir finde ich doch eine kleine Enttäuschung. Ich versuche, sie fortzuschieben, aber ich kann sie nicht leugnen. Und natürlich kennt Joice meine Gedanken genau. Er seufzt.
„Du machst es mir nicht leicht, Liebes. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass du diese Kraft nicht aushalten könntest.“ Er fährt mit seiner Salbung fort, ohne mich anzusehen.
Ich schnaube verächtlich. Aber insgeheim mustere ich noch immer seinen Körper. Er glänzt wie eine Marmorstatue.
„Diese Macht ist sehr alt“, ergänzt er. „Selbst ich ertrage sie nur mit viel Mühe.“
„So siehst du nicht aus“, sage ich bewundernd und frage mich selbst, ob ich eigentlich schimpfe oder flirte. Sein Blick ist undurchschaubar.
„Ich habe Hunger!“, jammere ich.
„Ich gehe mit dir jagen, sobald ich fertig bin. Warte noch einen Moment.“
„Ich habe genug von deinen Ideen“, sage ich und stehe auf. „Ich gehe allein.“
„Allein?“, fragt er und sein Gesicht versteinert. Aber ich erwidere seinen Blick und er gibt auf. „Bitte, nimm die Wölfe mit, Liebes!“
„Damit sie mich beschützen? Glaubst du, ich kann nicht selbst auf mich aufpassen?“
„Du solltest Crain nicht unterschätzen. Ich glaube zwar nicht, dass er uns hier findet, aber wir dürfen nicht unvorsichtig sein.“
„Vorsichtig …“ Ich koste das Wort auf der Zunge. „So kenne ich dich überhaupt nicht.“ Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Züge, als ich bemerke, dass er tatsächlich Angst um mich hat. Ich denke zurück an die Nächte, in denen Crain uns verfolgte. Er tauchte plötzlich auf, wenn wir Blut aus irgendeiner Kehle tranken, und störte unseren Frieden. Aber bisher sind wir ihm immer entkommen – wenn auch manchmal knapp. Wir sind stark genug, sage ich mir selbst. Joice hat mit Liliths Blut noch feinere Sinne bekommen. Trotzdem vergesse ich nie den Hass in Crains Augen.
„Warum glaubst du, will er mich töten?“, frage ich Joice wohl zum hundertsten Mal.
„Weil er hofft, dass ich ihm dann wieder folge.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Das verstehe, wer will“, sagt er leise, aber ich übergehe ihn.
„Braucht er dich so sehr?“, will ich wissen. „Oder ist es wegen deiner neuen Macht?“ Ich weiß nicht, welcher Grund mir besser gefällt … Während ich ihn ansehe, spüre ich einen eifersüchtigen Stich.
„Ich werde dafür Sorge tragen, dass dir nichts geschieht“, murmelt er abwesend. „Nimm bitte wenigstens Swift und den Leitwolf mit.“
„Warum muss ich mich vor ihm verstecken?“, frage ich spitz. „Soll das ewig so weitergehen? Weshalb können wir ihn nicht stellen und zur Strecke bringen?“
Joice hebt den Blick und lässt seine Augen auf mir ruhen.
„Weil ich den Krieg nicht will.“
Aber ich will ihn, denke ich, und er hört meine Gedanken.
Für einen Moment stellt er das Öl beiseite und erhebt sich.
„Warum, Gillian? Wieso willst du in diesen Konflikt eingreifen? Ich bin mir sicher, deine alten Freunde, Piper und die anderen, werden sich genug einmischen. Willst du vielleicht dein Einhorn zurück? Oder dein Amulett, das sie dir genommen haben? Deinen Kristall? Willst du mehr Macht? Reicht dir nicht, was wir hier haben?“
Mit einem abschätzigen Blick führe ich ihm vor Augen, was er gerade tut und wie lächerlich das für mich aussieht. Ich nähere mich ihm langsam.
„Mir reicht es“, sage ich leise, aber ich schaffe es, mich zu beherrschen. „Ich will mit dir und unseren Kindern in Frieden leben. Aber den bekomme ich erst, wenn Crain tot ist.“
Ich hauche ihm die Worte ins Ohr und zeige ihm meine Vorstellung, wie es wäre, ihn umzubringen.
„Also willst du Rache“, sagt Joice.
„Genau das.“ Ich funkele ihn an. „Ich will seinen Tod, um jeden Preis.“
Mit diesem Gedanken lasse ich ihn zurück und verschwinde. Ohne Abschiedskuss, ohne ihn zu berühren, gehe ich langsam an ihm vorbei und winke nach Swift und dem Wolf, wie er es wollte. Ich spüre im Rücken, wie er mir nachsieht, und ich weiß, wie erleichtert er ist, dass ich auf ihn höre.
Du bist nicht so undurchschaubar, wie du glaubst, Joice, denke ich amüsiert, während ich nach draußen auf den Friedhof trete.
Ich lasse mir Zeit, als ich die Allee hinunterwandere. Dabei gebe ich mir keine Mühe, den Lichtkegeln der Laternen auszuweichen. Ich freue mich, meinen Durst zu stillen, und male mir aus, wie das heiße Blut meine Kehle hinabrinnt. Meine Opfer suche ich mir am liebsten unter jungen Menschen, die nachts in einer romantischen Anwandlung die Sterne betrachten oder allein auf dem Weg nach Hause sind. Einmal haben wir eine kleine Gruppe überfallen, die aus einem Club kam und singend durch die Straßen zog. Der Alkohol, den sie im Blut hatten, verstärkte unseren Rausch um ein Vielfaches und wir lagen danach eine ganze Weile im Gras und schauten unsererseits den Sternenhimmel an, während wir die Reste den Wölfen überließen.
Da Joice nicht bei mir ist, könnte ich mir heute Nacht vielleicht einen besonders hübschen jungen Mann auswählen; ich hätte Lust, ein bisschen zu spielen. In meinem Kopf höre ich die Schlagader zwischen den kräftigen Muskeln pulsieren. Ich wittere in die Mitternachtsluft, dann werde ich schneller. Ich bin auf der Jagd. Und der Wolf und der Hund folgen mir im Schatten der Bäume.
Der Geruch nach warmem Eisen lockt mich um eine Kurve und lässt mich die Allee hinunterstürmen. Blut!
Plötzlich höre ich das Geräusch. Ich bleibe stehen wie versteinert, aber es ist zu spät. Am Ende der Straße sehe ich die schwarze Kutsche. Das Grinsen des Vampirs, der sie führt, erkenne ich von hier, und an der Seite, auf dem Rahmen eines kleinen Fensters, liegt eine weiße Hand mit langen, schmalen Fingern, die mit protzigen Ringen nur so behangen sind. Crain. Ganz in der Nähe stimmt ein Rudel Wölfe sein Geheul an – ein großes Rudel, stelle ich fest. Ich mache kehrt und laufe, verlasse die Straße und das Licht und flüchte zwischen die Bäume. Swift weicht kein Stück von meiner Seite, aber aus seiner Kehle dringt ein wütendes Grollen.
Der Kutscher treibt die Pferde in den Galopp. Es dauert nicht lange, bis sie auf meiner Höhe sind. Ich höre, wie die Tür schlägt, danach Crains Absätze auf dem Asphalt. Ich renne um mein Leben.
Joice hat es gehört, rede ich mir ein, er muss das Heulen gehört haben. Unsere Kirche scheint noch eine Meile entfernt.
Das raue Gras streift meine nackten Beine, meine Schuhe versinken im lockeren Boden. Ich fühle, wie dicht er hinter mir ist, ich höre den leisen Wind in seinem Mantel. Ich zwinge mich, nicht zurückzublicken, und laufe noch schneller. Aber ich spüre, wie meine Reserven schwinden, mir fehlt das Blut. Joice, bete ich in Gedanken, hilf mir!
Vor mir taucht unser Leitwolf auf. Greif ihn an!, befehle ich ihm. Beschütze mich! Aber er rührt sich nicht von der Stelle. Als ich ihm zu nahe komme, knurrt er mich an und schneidet meinen Weg ab.
„Bist du wahnsinnig!“, kreische ich. Dann sehe ich voll Schaudern, wie sich seine Augen verfärben. Das Glühen in ihnen wird grau und kalt. Menschenaugen, denke ich, Crains Augen. Er hat ihn als Spion missbraucht.
Er lässt mich nicht passieren. Als Swift erkennt, dass der Wolf die Seite gewechselt hat, greift er ihn an, aber ich komme nicht vorbei. Rote Augen leuchten in der Dunkelheit, das Rudel hat uns eingekreist.
„Na schön!“, schreie ich voll Wut und drehe mich um zu Crain. Er steht nur ein paar Schritte hinter mir und empfängt mich mit einem Blick voller Abscheu. Ich erwidere seinen Ausdruck bereitwillig und stürze mich auf seine Kehle. Als er meinen Angriff kommen sieht, dreht er sich in eine passive Position und wehrt mich mit Leichtigkeit ab. Ich lande auf dem Boden hinter ihm. Verwirrt springe ich wieder auf die Beine.
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