„Ich war auch dort.“
„Du?“ Plötzlich überläuft mich ein eisiger Schauer. Ich denke einen Augenblick an Phoenix. „Also warst du der … du bist …“ Mit großen Augen starre ich ihn an. Dann flüstere ich: „ Du hast Andy getötet!“
Seine Miene gefriert. „Was?“ Einen Moment starrt er mich mit offenem Mund an. Dann sinkt er vor mir auf die Knie. „Bitte sag mir, dass das nicht stimmt! Bitte sag mir, dass er es überlebt hat!“
„Überlebt?“ Meine Stimme überschlägt sich. „Der Pfeil hat ihn direkt in die Lunge getroffen – wie sollte er das überleben! Du hast auf ihn geschossen!“
„Ich habe ihn nicht gesehen!“
„Du weißt überhaupt nicht, was du mir angetan hast!“
„Piper …“
„Du bist sein Mörder!“
„Ich habe auf den Vampir gezielt. Es war ein todsicherer Schuss. Er muss in die Linie geraten sein, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich wollte doch nicht ihn treffen, das musst du mir glauben!“
Als ich höre, was er sagt, verliere ich den Boden unter den Füßen. Seine Umrisse verschwimmen vor meinen Augen. Dann sehe ich gar nichts mehr. Ein todsicherer Schuss.
Ich falle ins Gras.
Als ich erwache, sitzt Joice vor einer seltsamen Apparatur und scheint ganz versunken in ein neues Experiment.
Ich schiebe den Deckel des Sarkophags beiseite und lasse ihn auf den Boden fallen. Das Geräusch hallt von den steinernen Wänden wider und die Kerzen flackern im Luftzug.
„Hast du gut geschlafen, Liebes?“, fragt er, ohne sich umzudrehen. Ich schwinge die Beine über den Sarg und setze mich auf den Rand. Das kurze Nachtgewand rutscht dabei noch ein Stück nach oben, aber es scheint ihn nicht zu interessieren. Er schwenkt einen kleinen Kolben mit Flüssigkeit und reguliert mit der anderen Hand die Flamme unter der Apparatur.
Grimmig springe ich auf den Teppich und gehe hinüber zum Paravent.
„Ich habe endlich die richtige Zusammensetzung“, erklärt er gut gelaunt, während ich meine Kleider für die Nacht anlege. Ein bisschen wehmütig streiche ich über den Satin; ich ahne, dass auch diese Nacht einer verrückten Idee gewidmet ist. Wie so viele vor ihr.
Als ich fertig bin, hockt Joice noch immer auf dem alten Stuhl und widmet sich seinem Arbeitsplatz. Neben ihm liegt sein Leitwolf und blickt sabbernd zu ihm auf. Ich stoße ihn mit dem Fuß beiseite, als ich mich ihm nähere.
Weiche Wellen umspielen meine Knie und berühren hinter mir fast den Boden. Ich lehne mich vor ihm an den Tisch und stelle sicher, dass das Schmuckstück um meinen Hals tiefer liegt, als es sich gehört. Ich schenke ihm einen sinnlichen Blick, als ich frage: „Und wie hast du geschlafen? Wenig, nehme ich an?“ Ich beiße mir auf die Zunge. Schließlich will ich es nicht verderben.
Er schaut zu mir auf, ohne den Kopf zu heben und widmet mir einen langen Blick. Natürlich springen seine Augen auch hinunter zu dem Anhänger und er gibt vor, fasziniert den Kristall zu betrachten. Dann sieht er mir wieder ins Gesicht.
„Würdest du hinaufgehen und mir das Gefäß holen?“
„Wie bitte?“
„Liebes! Ich brauche Liliths Essenz, und wem sonst sollte ich sie anvertrauen?“ Er hebt die Augenbrauen.
Ich presse zuerst die Zähne aufeinander, aber dann kräusele ich die Lippen. Mein Blick ist so finster, dass er glauben muss, ich will ihn fressen. Doch er sieht mich unverwandt an. Er weiß genau, dass er nur seine Hand an meine Taille zu legen braucht, um mich zu überzeugen. Er sendet mir ein romantisches Bild mit seinen Gedanken. Und einen vielsagenden Blick.
„Wenn ich fertig bin, nehme ich mir Zeit für dich“, verspricht er lächelnd und ich gebe nach.
„Immer deine blödsinnigen Experimente“, maule ich, aber er ignoriert es. Genervt stapfe ich aus dem Raum und die dreißig Stufen hinauf ins nächste Stockwerk des Turms. „Warum hast du sie überhaupt hier raufgebracht?“, frage ich nach unten, aber er ist schon wieder in seine Arbeit vertieft. Er würde mir ohnehin niemals seine Angst eingestehen, diese bescheuerte Dose voller Staub zu verlieren.
Die Wölfe heben die Köpfe, als sie mich sehen, aber ich widme ihnen nur einen vernichtenden Blick. „Ihr könnt mir heute gestohlen bleiben!“, zische ich. Selbst meinem Hund Swift, der mich mit einem Schwanzwedeln begrüßt, schenke ich keine Beachtung.
Ich gehe zu einem Regal und nehme die alte Bibel heraus. Was für ein dämliches Versteck, denke ich, genau hier würde Crain doch als erstes suchen! Aber ich schlage gehorsam das Buch auf und finde auch die Dose zwischen den ausgeschnittenen Seiten. Ein kleiner Tonkrug, der mich an die Gefäße erinnert, in denen im alten Ägypten die Organe der Mumien aufbewahrt wurden. Ich kann kaum sagen, wie froh ich bin, dass das das Einzige ist, was von Lilith übrig blieb.
Als ich wieder nach unten komme, folgt mir Swift mit gesenktem Kopf.
„Denk ja nicht, dass du mich aufmuntern kannst!“, erkläre ich ihm. Schon reißt mir Joice die Dose aus der Hand.
„Da bist du ja!“
Empört fauche ich ihn an. „Dieses Theater geht mir auf den Geist, Joice!“
„Ich weiß“, erwidert er nüchtern. Aber er sitzt schon wieder vor der Apparatur und angelt eine Messerspitze Staub aus dem Gefäß.
Ich beobachte sprachlos, wie er noch immer den Kolben mit der Flüssigkeit schwenkt, die aussieht wie ein einziger Tropfen Öl. Dabei lässt er das Pulver langsam vom Spatel gleiten. Als es auf die Oberfläche trifft, verglüht es mit tausend blutroten Funken.
Ich fühle mich an Liliths Augen erinnert, ihren leidenschaftlichen Blick. Fast wahnsinnig hat sie mich angesehen, als sie verlangte, dass Joice mich fortschickte. Sie wollte, dass er mich nie wieder sehen sollte. Und doch ist er hier und sie ist tot. Nichts weiter als Staub.
„Siehst du, dass es funktioniert?“, fragt er mich wie ein begeistertes Kind. Mir fallen die unzähligen Versuche ein, in denen die Flüssigkeit das Pulver nicht aufnahm und sich beide Komponenten trennten. Manchmal entstand sogar eine gefährliche Mischung, die schäumend das Glas zerfraß. Aber jetzt sieht es ganz harmlos aus.
Gespannt lässt Joice einen Tropfen auf seine Haut fallen. Als nichts passiert, verreibt er ihn mit den Fingerspitzen.
„Und?“, frage ich neugierig. „Fühlst du etwas.“
Als er mich ansieht, dreht er für einen Moment die Augen nach oben weg, spannt jeden Muskel seines Körpers und antwortet gebieterisch: „Die Macht, die ganze Welt zu unterwerfen!“ Dann muss er lachen und ich bin plötzlich wieder ärgerlich.
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
Eifrig rührt er das restliche Pulver in den Kolben, darauf bedacht, dass der Funkenregen nicht aus dem Glas entweicht.
„Ich will dir helfen!“, erklärt er, als er zu mir kommt und mich nach unten auf den Teppich zieht. „Dir. Mir. Uns. Deinen Kindern …“ Er stellt den Kolben neben sich ab und knöpft sein Hemd auf.
„Unseren Kindern!“, korrigiere ich, während ich ihn beobachte. „Warum trinkst du es nicht?“, frage ich ihn, als er das Hemd ablegt und den Gürtel öffnet.
„Das Verwundbarste an uns ist unsere Haut“, sagt er. „Unser Geist ist stark, genau wie unsere Heilungskräfte. Aber einer Klinge haben wir für den Moment wenig entgegenzusetzen – erst recht, wenn sie versilbert ist.“
„Heißt das, du hoffst, auf diese Art auch Silber widerstehen zu können?“ Ich muss nach Luft schnappen bei dem Gedanken. Außerdem genieße ich, wie er mit den Händen das Öl auf seiner Brust verteilt.
Geheimnisvoll sieht er mich an. „Wer weiß …“
„Darf ich dir helfen?“, frage ich ihn.
„Nein!“, sagt er schnell, als hätte ich ihn erschreckt. Dann erklärt er: „Es ist besser, wenn du es nicht berührst.“
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