Robin ist sofort bei mir, auch er springt über den Zaun, als er zurückkehrt, und schirmt mich von den anderen ab. Er versichert mir, dass sie nicht wiederkommen werden, dann beruhigt er mich mit ein paar liebevollen spanischen Worten, reicht mir etwas zu trinken und hebt meinen Hut auf, der in den Sand gefallen ist. Während er den Staub abklopft, fragt er in einer umständlichen Art, ob ich mit zu Clip kommen will, aber ich schüttele den Kopf.
„Ich glaube, ich muss einen Moment allein sein“, antworte ich und nehme meinen Hut dankend wieder entgegen. „Vielleicht komme ich später noch zu ihm, sagst du ihm das?“ Ich schaffe es nicht zu lächeln, und Robin nickt schweigend. In seinem Blick liegt so viel Sorge, dass es mir schwer fällt, ihn zu enttäuschen, aber ich fühle, dass ich zu Luna muss. Vielleicht finde ich in ihrer Nähe wieder einen klaren Gedanken.
Robin geht und würdigt Oscar keines Blickes. Auch ich sehe niemandem ins Gesicht und folge langsam dem Weg zur Einhornweide. Der Hof bleibt hinter mir zurück, zusammen mit den Ereignissen dieses jungen Tages. Ich kann noch immer nicht glauben, was passiert ist. Ich konzentriere mich auf die wenigen Sonnenstrahlen, die meinen Rücken wärmen, auf das Geräusch, das das trockene Gras unter meinen Stiefeln macht, auf das näherkommende Schnauben der Pferde. Ich laufe an ein paar Bäumen vorbei und an einer stacheligen Hecke, die die Koppel einrahmt, die in einer Senke versteckt liegt.
In meinen Gedanken rufe ich nach Luna und sie antwortet mir, noch bevor ich sie sehen kann. Als ich das Tor hinter mir schließe, kommt sie auf mich zu, und auch in ihren Augen glaube ich Sorge zu erkennen.
Was ist geschehen? Deine Wange ist rot!
Ich lege eine Hand auf die Stelle, wo Danny mir die Ohrfeige erteilt hat. Sie fühlt sich heiß und geschwollen an. Ich erzähle ihr die Geschichte mit den spärlichen Bildern, die meine Erinnerung zustande bringt.
Ärgere dich nicht, sagt sie, am Ende widerfährt allen Gerechtigkeit.
Ich sehe sie nachdenklich an. „Woher nimmst du nur immer diese weisen Worte?“
Sie blickt freundlich zurück. Dann wiehert sie leise und schaut an mir vorbei.
Hinter mir höre ich langsame Schritte im Gras. Wahrscheinlich ist es Robin, denke ich, aber als ich mich umdrehe, sehe ich in das Gesicht von Oscar. Im ersten Moment erschrecke ich, weil ich ihm den Weg zur Weide gezeigt habe, aber dann sage ich mir, dass er ihn wahrscheinlich ohnehin längst kennt, schließlich arbeitet er hier.
„Hey“, sagt er. Ich antworte nicht. Ich suche nach einer Erklärung dafür, weshalb er meine Beine nicht mehr sehen konnte, falls er danach fragt. Dann beschließe ich, dass es das Beste ist, alles abzustreiten. Aber er fragt nicht.
„Das tut mir leid“, sagt er und legt den Finger auf seine Wange, um mir zu zeigen, was er meint. „Tut es noch weh?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich hatte schon schlimmere Verletzungen.“
„Nun, dann bist du besser davongekommen als er!“ Oscar lächelt und mir wird einen Moment seltsam warm dabei. „Er war nicht dein Vater, oder?“
Ich schnaube. „Das hätte er wohl gerne! Aber mein Vater war auch nicht besser. Wahrscheinlich hatte ich gehofft, ewig mit meiner Mutter allein leben zu können …“
Er weiß nicht, was er dazu sagen soll. Irgendwie fühle ich mich an meine erste Begegnung mit Andy erinnert. Ich nerve ihn mit Problemen, die ihn sicher überhaupt nicht interessieren. Dann antwortet er doch etwas.
„Weißt du, meinen Vater habe ich eigentlich nie kennengelernt.“ Jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll. „Ich hab keine Ahnung, was schlimmer ist“, meint er, „so einen Vater zu haben oder gar keinen.“ Er macht eine Pause. „Es steht mir zwar nicht zu, darüber zu urteilen, aber ich glaube, zumindest deine Mutter war auf deiner Seite.“
Wieder kann ich mich nur abfällig äußern. „Ich glaube, sie ist intelligent genug, um zu merken, dass die Arbeit hier das Einzige ist, was mich am Leben hält.“ Und meine Freunde, füge ich in Gedanken hinzu, die Krieger, die Pferde und die Einhörner – drei Gründe, zu überleben, drei Dinge, die mich brauchen. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern.
„Aber du hast Glück“, sagt er, „du hast einen tollen Freund. Er muss dich sehr lieben.“
„Er ist nicht mein Freund“, antworte ich. „Mein Freund ist tot.“
Eine Weile sagt er nichts. Irgendwann meint er: „Ich verstehe das besser, als du vielleicht denkst. Ich habe sehr viele Menschen verloren. Aber jetzt begreife ich, weshalb hier alle so seltsam sind. Ich dachte schon, deine Freunde können mich nicht leiden.“
„Vielleicht ist das auch so“, sage ich verärgert, weil er es wagt, Andy mit irgendjemandem zu vergleichen.
Er atmet aus. „Eigentlich wollte ich mit dir über etwas ganz anderes reden …“
Ich blicke eine Weile auf das trockene Gras.
„Es tut mir leid“, sage ich dann versöhnlich. „Du kannst natürlich nichts dafür.“
„Es ist noch nicht lange her, was?“
„Ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen.“
„Kein Problem.“ Ich muss an Robin denken. Er hätte dasselbe gesagt. „Vielleicht kannst du mir dann etwas anderes erklären?“
Ich sehe ihn fragend an. Er zeigt mir seine Hand und erst jetzt fällt mir auf, dass sie von den Fingerspitzen bis zum Ellbogen bandagiert ist.
„Hast du dich auch geprügelt?“, frage ich mit einem schiefen Grinsen.
„Nein.“ Er lächelt zurück. Aber dann wird er wieder ernst. „Das war der Drache.“
Entgeistert blicke ich ihn an. „Du warst bei dem Drachen?“ Ich bin so schockiert, dass ich mich gar nicht erst bemühe, eine Ausrede zu finden. Es verwirrt mich, dass er keine Sekunde lang an seinem Verstand zweifelt. Ich weiß noch, wie lange ich gebraucht habe, um Clips Existenz zu begreifen.
Noch einmal blicke ich auf den Verband.
„Das war Clip?“, frage ich dann. „Was hat er getan?“
Oscar nickt. „Er war erschrocken. Natürlich hat er sein Revier verteidigt … Wie nennt ihr ihn?“
„Sein Name ist Eclipse, wegen seiner dunklen Augen.“ Automatisch sehe ich in seine, aber ich senke schnell den Blick.
„Nun, darauf konnte ich leider nicht achten.“ Ich höre, dass er lächelt, und sehe wieder auf. „Und woher habt ihr ihn?“
Ich seufze. „Ich weiß nicht, ob ich mit dir darüber reden sollte.“ Ich denke an Joice' Warnung vor ihm. Ein innerer Drang treibt mich dazu, mich zurückzuziehen, aber als ich das offene Interesse in Oscars Gesicht sehe, beschließe ich, ganz ehrlich zu sein. Ich kann einfach nichts Verdächtiges an ihm finden. Er ist nur der nette Junge von nebenan; der mit den freundlichen Augen, dem wilden Pferd und dem tollen Auto, der reiten kann wie ein Halbgott und der ausgerechnet mich angesprochen hat. Und er scheint genau zu wissen, wovon er redet. Warum sollte ich ihm nicht antworten?
„Also schön. Eine gute Freundin hat ihn uns gegeben, ein Waldgeist.“
„Annikki.“
Als er das sagt, klappt mein Unterkiefer herunter. „Woher weißt du …“
„Sie ist auch meine gute Freundin. Sie hat mir den Auftrag erteilt, euch zu suchen. Na ja, ich habe eine ganze Weile gebraucht …“
In meinem Kopf ordnen sich die Gedanken neu. Jetzt verstehe ich die Worte des Vampirs überhaupt nicht mehr.
„Annikki hat dich geschickt?“, frage ich, um ganz sicher zu gehen, dass ich ihn richtig verstanden habe. „Und wer bist du?“
Jetzt scheint er sich etwas unwohl zu fühlen. „Das ist ein wenig komplizierter. Wir sind uns schon ein paarmal begegnet. Du warst doch auf dem Friedhof gestern Abend, nicht wahr? War es wegen deinem Freund?“
„Ich … woher weißt du das?“
Meine Gedanken suchen nach vernünftigen Erklärungen, aber er nimmt sie mir ab.
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