Vielleicht sogar intensiver psychologischer Betreuung bedurfte? Das scherte Arthur nicht. Mit diesem geldgeilen Gesindel hatte er keinerlei Mitleid. Aber es machte ja ohnehin keinen Unterschied, wer dort im Chefsessel saß. Die verschlungenen Pfade des globalen Kapitals kannte schon lange niemand mehr vollständig, der Überblick war mit der Einführung des Computerhandels endgültig verloren gegangen. Das Netzwerk des Mammon war zu komplex geworden, für unsere kleinen Köpfe. Alles, was blieb, war geschäftig an Stellschrauben zu drehen und zu hoffen, dass es weiterhin funktionierte, dass der kleine Mann auf der Straße dem Befehl des Kapitals weiterhin Folge leistete, brav in seinem Hamsterrad lief, und vor allem, das hatte höchste Priorität, an den Wert der bedruckten Zettelchen glaubte, in der modernen Form mehr Stoff als Papier, die man „Geldscheine“ nannte. Dann ging alles weiter seinen gewohnten Gang. Bis zur nächsten Krise, versteht sich.
Nach diesen betrüblichen Gedankengängen hatte Arthur jegliche Lust verloren, den Raum, in dem er gegenwärtig lag, näher zu untersuchen, aber er rang sich dann doch dazu durch. Der Raum war wie gesagt bar jeden Mobiliars, aber nicht leer. Genaugenommen war er randvoll, zumindest was den Fußboden anging: Dort lagen, dicht aneinander gedrängt, dutzende Männer aller Altersklassen, nicht unähnlich dem gestrigen Filmset, eine Bandbreite von Teenagern bis alten Männern, die auf diese Weise schlafend die Nacht verbracht hatten. Eben waren die nackten Glühbirnen eingeschaltet worden, die schnörkellos an Kabeln von der Betondecke hingen. Erstes Murren wurde laut.
Von anderer Stelle drang noch Schnarchen zu ihm herüber. Durch ein kleines vergittertes Fensterchen dicht unter der Decke war fahles Tageslicht zu erkennen.
Die frische Morgenluft, die hereinwehte, machte auf dem Absatz wieder kehrt, angesichts der quasi schnittfesten Ausdünstungen von etwa drei Dutzend ungepflegter Männerkörper. Arthur musste einen Würgereiz unterdrücken, als er sich auf die Wahrnehmung seines olfaktorischen Sinnesorgans konzentrierte.
Man konnte es nicht diplomatischer Ausdrücken: Es stank bestialisch in dieser Zelle des Zentralgefängnisses von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, Abteilung Langzeithäftlinge, alle Anwesenden mit Mord bzw. organisierter Drogenkriminalität auf dem Kerbholz. Eine feine Gesellschaft.
Zwölf Jahre hatten sie ihm aufgebrummt, dem alten José, da er bei seiner Verhaftung bereits in den inneren Zirkel des Kartells aufgestiegen war. Die einzige Karriere, die er jemals hatte erwarten können, angesichts seiner Herkunft aus einem Armenviertel. Arthur verurteilte ihn nicht, da er die Ausweglosigkeit in den fremden Gedankenspuren lesen konnte. Langsam regten sich jetzt die Körper um ihn herum, und unterbrachen seine Erkundungsreise in ein vergangenes Leben, mit all seinen Hoffnungen und Träumen, dem Scheitern und der Verzweiflung, der emotionalen Abstumpfung und schließlich der Fügung in ein alternativloses Schicksal.
Die Verrichtung der morgendlichen Notdurft in einem kleinen Verschlag in der Ecke, der ein Plumpsklo beherbergte, war ebenso ekelerregend wie entwürdigend. Keiner der Männer hier schien sich mehr daran zu stören, der Mensch kann sich wohl an fast alle Lebensumstände gewöhnen, so grausig sie auch sein mögen. Dann wurde das Frühstück gereicht, eine undefinierbare Pampe aus Mais und Weizengrieß, nur der Hunger trieb es hinein. Arthur hatte gelesen, dass es in solchen Gruppen ähnlich einem Wolfsrudel eine feste Hackordnung gäbe, und er bemühte sich, keinen Schnitzer zu machen, der ihm, also José, gefährlich werden konnte. Allein der Fehler, ranghöheren Rudeltieren in die Augen zu schauen, konnte unter solch extremen Umständen bereits das Leben kosten, das war die harte Realität. Während der gesamten Dauer des Freigangs im Innenhof der schwer gesicherten Anstalt blieb sein Blick daher auf den Boden gerichtet. Dennoch nagte ein unangenehmes Gefühl an ihm, eine Sorge, deren Ursache er noch ergründen musste. Irgend etwas war kürzlich vorgefallen, das teilte ihm sein Unterbewusstsein mit.
Vor einigen Tagen musste es gewesen sein, also vor Arthurs Gastspiel in José, den er nun möglichst unbeschadet durch diesen Tag zu steuern versuchte. Nicht ganz uneigennützig, denn Arthur hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sein Wirt zu Tode kommen sollte. Würde seine Reise dann abrupt enden? Wäre er dann ebenfalls tot, nach dem Motto: Die Uhr mag stehen, der Zeiger fallen – es sei die Zeit für mich vorbei , oder würde er sich wieder eingeschlossen finden in seinem vollständig gelähmten Körper, der sterblichen Hülle des Arthur D. im fernen England?
Das wollte er um jeden Preis vermeiden, daher wäre es besser einzuschlafen, als zu sterben, denn der Schlaf transportierte ihn immer weiter, über einen endlosen Ozean schlafender Körper ohne aktuelles Ich, ohne aktives Bewusstsein, allesamt leeren Hüllen gleich, um schließlich in irgend einem von ihnen zu erwachen.
Er war dann diese Person, dieser Mensch, mit all seinen charakterlichen Eigenschaften, nur eben mit dieser einen entscheidenden Abweichung:
Er erinnerte sich an gestern. Nicht nur an das Gestern, das sein aktueller Körper durchlebt hatte, sondern auch sein eigenes, Arthur-Gestern.
Das war die erste Zeit unglaublich verwirrend gewesen, und es schien auch eine physiologische Veränderung am jeweils betroffenen Gehirn hervorzurufen. Denn aufgrund dieser Anomalie, also seines Eindringens, wurden in das Gedächtnis des neuen Wirtes neben dessen regulären Erinnerungen zusätzlich noch die parallelen Erinnerungen Arthurs gepresst, praktisch im Moment des Erwachens. Und diese wurden immer mehr, je länger seine Wanderschaft andauerte. Arthur spürte daher immer in den ersten Minuten seines Aufenthaltes einen leichten Kopfschmerz, in etwa so, als hätte man Luft geschluckt, und müsste warten, bis sie durch die Speiseröhre gewandert war. Nur eben im Kopf. Als würde ein Pfropfen hineingestopft, der sich ausdehnte, das ganze Hirngewebe durchtränkte, um ein Teil des Ganzen zu werden. Blieb nur zu hoffen, dass es dadurch nicht zu einem erhöhten Schlaganfall-Risiko kam, denn Arthur wollte den Menschen, die er einen Tag begleiten durfte, keinen Schaden zufügen, sondern im Gegenteil, ihnen unter anderem darin behilflich sein, aus starren Verhaltensmustern auszubrechen, um ihr Leben in eine bessere Richtung zu leiten, und im Idealfall, wenn sich die Gelegenheit ergab, sogar den Zustand der Welt ein klein wenig zu verbessern. Oder es zumindest zu versuchen. Denn das war Arthurs eigentliche Mission. Er wollte etwas verändern. Wollte Spuren hinterlassen, die über ihn selbst hinauswiesen.
Und da es kein einzelnes großes Stellrad zu geben schien, war das Drehen an vielen kleinen Stellrädchen ohnehin die aussichtsreichste Methode. Was gab es also in seiner heutigen Situation zu tun? Er dachte an die Familie des Mannes, der er heute war. Besucht hatten sie ihn nie, aber er war auch kein guter Ehemann und Vater gewesen, schon gar kein Vorbild. Seine beiden Töchter hatte er nun im Stich gelassen. Wie sollten sie sich da draußen durchschlagen? Und wem war damit gedient, dass er hier einsaß, an diesem schmutzigen Ort voller schmutziger Menschen mit schmutzigen Gedanken? Hatte er nicht das Recht, sein Glück zu suchen wie jeder andere Mensch? Und welchen Schaden hatte er verursacht?
Das weiße Pulver, das nach Europa und in die USA ging, das hatte er niemandem persönlich in die Nase gestopft. Das tat jeder selbst und aus eigenem Antrieb. Wieso glaubte eine abstrakte übergeordnete Instanz wie „der Staat“, so tief in das persönliche und private Gebaren seiner Bürger eingreifen zu dürfen? Wer hatte das Recht, Felder niederzubrennen, und den Bauern damit die einzige lukrative Einnahmequelle zu nehmen, nur weil aus ihren Pflanzen einmal jenes berüchtigte weiße Pulver oder jene verheißungsvolle goldbraune Flüssigkeit werden sollte?
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