Der Teil von ihr, der tatsächlich „arbeitete“, also an der realen Wirtschaft partizipierte, war verschwindend gering. Es war an Absurdität nicht zu überbieten und zog eine unvermeidliche Konsequenz nach sich: Die Schere zwischen arm und reich würde sich weiter öffnen, auch wenn das in der sogenannten „1. Welt“ nicht offensichtlich war, da es hier – noch – einen Mittelstand gab. Wie lange noch? Wann würde der gesellschaftliche Friede brechen, ab wann sich die Reichen in bewachten Vierteln einschließen müssen, wie es heute in Südamerika bereits der Fall war?
Auch nachdem er vermittels eines der Dienstmädchen seines Anwesens, wie jeden Mittwoch und Samstag, sexuelle Befriedigung erlangt hatte und sich zur Ehefrau des Bänkers ins Bett legte, hatte er darauf noch keine Antwort gefunden. Offenbar wusste sie auch der Chef der amerikanischen Notenbank nicht, was Arthur zum einen beruhigte, zum anderen erschütterte. Das Geld führt uns alle am Gängelband durch die Manege, und wir müssen alle springen, wenn es ruft. Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts, so musste man leider feststellen. Alle Annehmlichkeiten dieser Welt konnten mit Geld erworben werden, es vermehrte sich zudem aus sich selbst heraus, ein gar eigenartig Ding war es. Nein, hier gab es für Arthur nichts mehr zu tun, keine Einzelperson konnte diesen monströsen Geist zurück in die Flasche zwingen.
Die Zeiten der durch Gold gedeckten Geldmenge war lange vorbei und würde nie mehr wiederkehren. Doch die Zahlen und Größenordnungen im Kopf des obersten Bänkers stellten alle seine bisherigen Vermutungen in den Schatten, es war einfach jenseits des menschlich Vorstellbaren.
In solchen Momenten sehnte sich Arthur in sein altes, sein erstes und eigentliches Leben zurück, in den Körper, der nurmehr von Maschinen am Leben gehalten wurde, der sein ewiges Gefängnis sein sollte, aus dem ihm aber dennoch der Ausbruch gelungen war. Warum auch immer.
Seine Erinnerung an den fraglichen Tag stand ihm klar wie ein Film vor Augen, der Tag, an dem er von der Arbeit heimgekehrt war und sich anschickte, den frisch angelieferten Küchenherd anzuschließen. Damit der Teekessel wieder sein fröhliches Liedchen pfeifen konnte.
Sollen wir nicht eine Profi anrufen? hatte seine Frau mehrfach gefragt. Das sei doch gefährlich mit dem Starkstrom…?
Papperlapapp , hatte er gedacht, die Kabel aus der Wand waren schön bunt, und passten farblich zu denen, die das Gerät vorzuweisen hatte. Einfach die jeweiligen Enden miteinander verbinden, eine Sache von 10 min, dann wäre das Prachtstück einsatzbereit, Null Problemo! , hatte er damals enthusiastisch erklärt. Und war fröhlich ans Werk gegangen.
Die richtige Sicherung in die richtige Stellung zu schalten, das war natürlich Voraussetzung für gefahrloses Arbeiten an der Hauselektrik. Und wenn alle Sicherungen korrekt beschriftet sind, ist das auch überhaupt kein Problem. Wenn.
Doch manchmal stimmen die Beschriftungen nicht, wie er feststellen musste. Den Moment, als die Welt um ihn herum erst ihre Farbe, dann ihren Klang verlor, konnte Arthur beinahe schmecken, so seltsam das auch klingen mochte. Bevor die betreffende Sicherung flog, hatte es in Arthurs Oberstübchen bereits unzählige davon hinausgeworfen, ein Gefühl, als würde er plötzlich durch seine Augenhöhlen in seinen Schädel hineingepresst und alle Türen fielen hinter ihm ins Schloss, undurchdringlich für Licht und Ton. Denn das ist ja der wahre Zustand unseres Gehirns, dem schwammartigen Thron unseres „Ichs“:
Es ist eingeschlossen hinter Knochenmauern in ewiger Dunkelheit, kann selbst weder hören noch sehen. Die Realität, oder was wir dafür halten, konstruiert es kontinuierlich aus dem Strom elektromagnetischer Signale, die unentwegt über Nervenbahnen hereinströmen. Mehr Information steht diesem wabbeligen grauen Klumpen nicht zur Verfügung. Was da draußen, jenseits des Schädelknochens, tatsächlich existiert, kann es nur vermuten. Als oberste Verarbeitungsebene seiner elektrochemischen Software wird vom Gehirn - im evolutionär jüngsten Abschnitt seiner Struktur - der Teil unseres Körpers generiert, der sich für uns hält, also der festen Überzeugung ist, ein Cop, ein Penner, Chef der Notenbank oder eben Arthur zu sein. Das Ich. Oft kopiert, selten erreicht. Beim Hirntod wird diese Software heruntergefahren, die Nervenbahnen leiten nicht mehr, die chemischen Brücken an den Synapsen werden aus Energiemangel inaktiv.
Dann beginnt der Zerfall des Netzwerkes, und mit ihm zerfällt alles, was „uns“ ausgemacht hat, unsere Empfindung von uns selbst, unser „Ich“, und auch unser wichtigster Schatz, unsere Bibliothek: Die Erinnerungen.
Dann sind wir weg, oder „tot“, wie man sagt.
Tatsächlich und unwiederbringlich weg. Man musste glücklicherweise auch nicht irgendwo weiter herumgeistern, was auch seine Vorteile hatte. Denn die Unendlichkeit ist lang - vor allem gegen Ende hin.
Und langweilig. Da musste man wirklich nicht durchgehend dabei sein.
Der worst case nach einem Unfall war jedoch nicht der Tod, sondern ein Zurückbleiben des „Ich“ in einem von der Außenwelt völlig abgetrennten Gehirn, mit Zugriff auf die Erinnerungen, sich seiner selbst völlig bewusst, aber ohne jeglichen Informationszufluss von der Welt außerhalb des Schädels. Es war fortan dunkel und still, genauer gesagt pechschwarz und mucksmäuschenstill, eine dunklere Dunkelheit als man sie sich vorstellen könnte, und eine Stille, die so undurchdringlich schien, wie die Türen von Fort Knox. Man nennt es „locked-in Syndrom“. Man war in sich eingesperrt.
Von außen ist nicht zu erkennen, ob sich noch ein Bewusstsein hinter dem ausdruckslosen, aufgedunsenen Gesicht befindet.
Mit anderen Worten: Man sitzt in der Falle. So wie er selbst. Arthur.
Der brutale elektrische Schlag hatte seine Nervenbahnen lahmgelegt, ob vorübergehend oder permanent, er vermochte es nicht zu sagen. War sein Körper hingefallen? In welcher Position befand er sich? All das war für ihn nicht in Erfahrung zu bringen. Nur, dass sein Herz noch schlug und sein Gehirn weiter mit sauerstoffreichem Blut versorgte, das schien sicher zu sein. Denn sein Gehirn erzeugte ihn beharrlich weiter, ihn, der wusste, dass er Arthur war, Brite, Finanzbuchhalter und verheiratet, mit einer satten Hypothek auf dem kleinen Häuschen am Rande der Stadt. Er war ganz er selbst, nur eben in sich gefangen. Er wollte schreien, aber kein Ton kam heraus, oder genauer gesagt, er konnte keinen Ton hören.
Ob er schrie, sein Mund also geöffnet war und die Lunge Luft über die Stimmbänder presste, das wusste er nicht, bezweifelte es aber.
Die Nervenbahnen waren sicher nicht nur in eine Richtung stillgelegt. Nichts kam herein und nichts ging hinaus. Dunkelheit und Stille waren vollkommen. Wie viel Zeit war schon vergangen? Sekunden oder Tage? Wie lange kann man bei vollkommener Dunkelheit und Stille bei Verstand bleiben? Es blieb nur die Hoffnung auf eine Veränderung des Zustandes.
Hatte man seinen Körper schnell gefunden? Hatte er sich beim Sturz auf den harten Küchenboden zusätzlich am Kopf verletzt? Arthur spielte alle Möglichkeiten durch, immer und immer wieder, bis ihm ein grausiger Begriff in den Sinn kam, der plötzlich wie eine Horrorvision sein ganzes Denken ausfüllte: Wachkoma
Er steckte in einem Körper fest, der am Leben gehalten wurde, ohne mit der Umwelt kommunizieren zu können. Und das… für immer??
Die Schläuche, die ihn fütterten und beatmeten, die lieblosen fremden Hände, die seine intimsten Stellen säuberten, all dies konnte nun bereits vor sich gehen, seit Tagen oder Jahren, da er kein Gefühl mehr für den Verlauf der Zeit hatte. Es ließ sich nicht mehr sagen, da sich nichts mehr ereignete, was eine chronologische Reihung ermöglicht hätte. Arthur schwamm in einem unendlichen Ozean aus Zeit, auf seine Erinnerungen zurückgeworfen, ohne Silberstreif am Horizont, was zuerst eine Panik, dann Resignation hervorrief. Dann begann er die Müdigkeit zu spüren, nicht als Ermüdung des Körpers, sondern des Geistes. Sein Ich brauchte eine Pause, und Arthur ließ es zu, er kapitulierte, denn es gab ohnehin nichts mehr, was er hätte tun können. Oder einen Grund dafür. Damit verschwand der Teil seiner messbaren Gehirnwellen, die auf ein Bewusstsein hindeuteten. Die elektrochemische Software seines Gehirns hatte auf Basismodus zurückgeschaltet, die nackte Benutzeroberfläche zeigte in dieser Analogie nur noch den blinkenden Cursor.
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