1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Eine bleierne Stille lag über der Szenerie.
Im Wesentlichen wurde nur schwer geatmet.
Schweres Atmen war aktuell definitiv das dominierende Geräusch in diesem Raum, und es begann Arthur zunehmend zu nerven.
Das Bild, das sich ihm gerade zeigte, wäre wohl kein anderes, wenn er mit wildem Kampfgebrüll und einer durchgeladenen AK-47 im Anschlag durch die Tür gestürmt wäre.
Was er, genau genommen, auch soeben getan hatte, soviel muss an dieser Stelle erwähnt werden.
Ein bitteres Lächeln umspielte Arthurs Lippen, als er die Waffe sinken ließ, bis ihre Mündung auf den Boden vor ihm zeigte.
Das allgemeine schwere Atmen schien gleich etwas leichter zu werden.
Er legte die Stirn in Falten und rief sich die vergangenen fünf Minuten ins Gedächtnis. Die paar Minuten, bevor er den Raum verlassen hatte, um die Waffe aus seinem Büro zu holen, wo sie seit Jahren als Wandschmuck diente. Sein alter Herr hatte sie einem Wehrmachtsoldaten aus den kalten Händen gewunden, der sie wiederum einem Rotarmisten aus dessen ebenso kalten Händen entwendet hatte.
Soweit die Kurzfassung der Geschichte der betagten Waffe.
Er, also Ben, hatte sie geerbt. Geladen und einsatzbereit, was allerdings niemand ahnte, der sein Büro betrat.
Was also war geschehen, um ihn danach greifen zu lassen?
Die anwesenden Herren (drei davon aktuell unter dem Tisch befindlich) waren zur Beichte erschienen, könnte man sagen.
Und wie es immer ist, mit ungezogenen Jungs, die richtig Mist gebaut hatten: Wenn die schmutzige Wäsche dann auf den Tisch kommt, möchte plötzlich jeder der erste sein, der alles gesteht. In der vagen Hoffnung, dem herab sausenden Rohrstock der zürnenden Vaterfigur so lange entgehen zu können, bis dem Alten die Puste ausging.
Die Vaterfigur war heute er selbst, das war Arthur klar. Zumindest war er in ihrem Körper aufgewacht. Lange schon hatte er sich danach gesehnt, einmal ein hohes Tier zu sein, ein Big Boss, jemand dessen Wort Gewicht hat, der etwas bewegen, einen Unterschied machen konnte, vielleicht schon an einem einzigen Tag. Jemand, den man in Insiderkreisen als „Regenmacher“ bezeichnete. An den Chefposten der amerikanischen Notenbank hatte Arthur bei seinen Gedankenspielen zwar nie gedacht, aber in seiner Situation musste man nehmen, was man kriegen konnte. Wie in dem alten Sprichwort: Wenn das Schicksal dir Zitronen (oder den Notenbankvorsitz) gibt, dann mach Zitronensaft draus. Oder so ähnlich. Eigentlich hatte Arthur momentan auch gar keine Zeit für derlei philosophische Überlegungen. Hatte er die Waffe überhaupt entsichert?
Ein erstes Räuspern mischten sich unter das Atmen, und von unter dem Tisch wurden zaghafte Krabbelgeräusche hörbar, die exakt so klangen, als würden Vorstandsmitglieder von Goldman-Sachs und der Rating-Agentur Moody's unter einem Konferenztisch hervor und zurück auf ihre Plätze kriechen, um dort angekommen so zu tun, als wäre nichts geschehen. Immer die Fassung wahren, so lautete das eherne Motto dieser Herren. Mit bleichen Gesichtern zwar, aber ansonsten äußerlich unbewegt. Immer so zu tun als wäre alles in bester Ordnung. Bis zum bitteren Ende.
Denn das konnten diese feinen Herren am besten.
Dieser betrübliche Umstand war Arthur klar geworden, als sie ihn über die bevorstehende Krise unterrichtet hatten. Und über ihre völlige Unschuld daran. Woraufhin er sich wortlos erhoben hatte, in sein Büro gegangen und mit der Waffe zurückgekehrt war.
Die genauen Zusammenhänge waren ihm immer noch nicht ganz klar, und er vermutete bei den übrigen Anwesenden dasselbe Problem, auch wenn es diese Knilche niemals zugeben würden.
Die Krise also. Okay. Was würde die Krise auslösen?
Irgendwas mit Immobilien.
In den Nachrichten und Zeitungen war noch nichts darüber berichtet worden, und er, Arthur, hörte heute zum ersten Mal davon. Doch er würde kommen. Der große Knall. Soweit war sein Gehirn den verklausulierten Ausführungen der Fonds-Manager und Bänker gefolgt, die sich heute in seinem Büro versammelt hatten.
Viele Banken hatten Immobilienkredite ohne Bonitätsprüfungen vergeben, zudem waren die betreffenden Häuser meist drastisch überbewertet worden. Zum allem Überfluss hatten die Rating-Agenturen bis zum Schluss Bestnoten für die faulen Kreditpakete vergeben.
Jetzt würde es so richtig knallen, und das Platzen der Immobilienblase nicht nur einige sehr renommierte Geldhäuser in Schwierigkeiten, sondern auch tausende arglose Kreditnehmer in die Obdachlosigkeit bringen. Schuld daran war offenbar niemand, der „Markt“ hatte sich selbst in diese Situation gebracht, so hatte man es ihm, dem Boss, in den letzten zwei Stunden händeringend zu erklären versucht. Kein Grund, jemanden zu feuern oder gar öffentlich bloßzustellen.
Merde happens , wie die Franzosen sagten. Wenn sie bilingual waren.
Okay, können wir dann bitte unsere Boni ausgezahlt bekommen?
Ah. Klar. Vielleicht doch eher ein Grund, auf jemanden zu feuern…?
An dieser Stelle hatte er kurz die Augen geschlossen und seine Gedanken waren auf die Enterprise abgeschweift, wie es ihm immer häufiger in den letzten Wochen passierte. Immer öfter wünschte er sich weg von diesem Planeten. Der wievielte Dreckstag seiner Irrfahrt war es heute ?
Vor seinem geistigen Auge zogen die Bilder vergangener Tage vorbei, eine schier endlose Reihe. Viele davon banal, einige bemerkenswert, einige wenige sogar recht spektakulär, des Erinnerns würdig.
Tage, an denen er beinahe, wirklich beinahe, etwas verändert hätte. Am Zustand der Welt, wohlgemerkt. Aber ein Tag war einfach nicht genug, das hatte er immer wieder feststellen müssen.
Nicht genug, um nachhaltig etwas zu verändern.
Denn das Problem war: Arthur hatte immer nur einen Tag, dann ging die Reise weiter, trug ihn fort an einen völlig anderen Ort, in ein anderes Land, in einen anderen Wirtskörper, den er unfreiwillig „kaperte“. Besser gesagt, er wachte schlicht und ergreifend in ihm auf, nicht mehr und nicht weniger, ohne etwas dagegen tun zu können.
Er wachte auf - und konnte sich erinnern. Leider. Oder glücklicherweise.
An Gestern. Genau genommen, an zwei verschiedene „Gestern“.
Sein eigenes Gestern, und das seines aktuellen Gastgebers.
Nur eines war verlässlich: Der Ablauf der Zeit. Dieser war völlig ungerührt von seinem Dilemma, seinem “Zustand“, wie auch immer man es nennen wollte. Die Tage vergingen exakt wie im Kalender vorgesehen, kein Murmeltiertag wurde gefeiert, es gab keine Zeitschleife oder ähnlichen Unsinn, und war heute der dritte Mai, so konnte er sicher sein, morgen am vierten Mai zu erwachen. Nur in welchem Körper, das war eine Lotterie. Oder folgte seine Wanderschaft verborgenen Regeln, die er nur noch nicht zu entdecken vermocht hatte? Konnte er sein Reiseziel beeinflussen?
Er bezweifelte es mittlerweile, auch angesichts der völligen Willkür seiner Stationen. Oft fand er sich in Köpfen, mit denen oder deren Inhabern er im wirklichen Leben nichts hätte zu tun haben wollen.
Etwas Gutes ließ sich diesem Irrsinn immerhin abgewinnen:
Man bekam einen Einblick in die Gedankenwelt vieler Menschen, auch derer, die man für komplette Idioten gehalten haben würde, wäre man ihnen auf der Straße begegnet.
Diese Einschätzung beruhte ohnehin zumeist auf Gegenseitigkeit.
Arthur kicherte kindisch vor sich hin bei diesem Gedanken, seine Umwelt ausblendend, die Anzahl der Tage ergründend.
Ah ja, jetzt erinnerte er sich wieder: Es waren bislang exakt 729 gewesen.
Das war sie, die gesuchte Zahl, ein Teil seiner Erinnerung. Seiner ureigenen Erinnerung. Nicht etwa 42, nein, diese Zeit war lange vorbei, sondern 729. Und sie war korrekt, seine frühere Karriere als Finanzbuchhalter ließ daran keinen Zweifel. Mit Zahlen an sich hatte er nie ein Problem gehabt. Aber diese spezielle Zahl erschütterte ihn dann doch etwas.
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