Margarete Böhme TAGEBUCH EINER VERLORENEN Von einer Toten
Als das vorliegende Tagebuch in meine Hände gelangte, war es meine Absicht, den Inhalt nach einiger Zeit zu einem Roman zu verarbeiten.
Auf Anraten meines Verlegers, des Herrn Fontane, stand ich später von diesem Vorhaben ab, und zog es vor, die Aufzeichnungen nach der erforderlichen Überarbeitung im Original der Öffentlichkeit zu übergeben. Die einzelnen Umgestaltungen mußten mit Rücksicht auf die verschiedenen in dem Buch benannten Personen vorgenommen werden und bestehen im wesentlichen in Namensänderungen. Einige Streichungen von Stellen, die sich absolut nicht für die Veröffentlichung eigneten, waren ebenfalls nicht zu vermeiden.
Nichts liegt mir ferner, als die Absicht, mit der Herausgabe dieser Tagebuchblätter die pikante Literatur um ein Buch zu bereichern. – Die schlichten Aufzeichnungen erheben keinen Anspruch auf künstlerische oder literarische Wertschätzung; sie sind nichts und wollen nichts sein als ein authentischer Beitrag zu einer brennenden sozialen Frage unserer Tage. Beredter und überzeugender als die glänzendsten Schilderungen aus berufener Schriftstellerfeder, sprechen sie zu uns und werfen ihre grellen Schlaglichter in die Welt der bürgerlichen Toten, der Ausgestoßenen und Parias der Gesellschaft.
Wenn die Lektüre dieser Blätter hier und da jemand zum Nachdenken anregt, wenn sich der Leser dabei vergegenwärtigt, daß kein Mensch, und stünde er noch so fest und hoch, mächtiger als sein Fatum ist, daß weder Wohlhabenheit noch Bildung, noch geachtete bürgerliche Stellung Tod und Unglück Schach bieten, und unseren eigenen jugendlichen Angehörigen sicheren Schutz vor einem ähnlichen Schicksal wie das der armen Thymian gewähren, – wenn er daraus die Schlußfolgerung zieht, daß man nicht konsequent in gedankenloser Gleichgültigkeit oder mit liebloser Verachtung an jenen Unglücklichen vorübergehen, sondern die Augen offen halten soll, um zu schauen, und Laster und Unglück zu trennen – dann ist der Zweck dieser Veröffentlichung erreicht. Dann hatte Thymian nicht umsonst ihres verfehlten Lebens Daten fixiert … Vielleicht war dann ihr Leben nicht einmal ein »verlorenes«.
MARGARETE BÖHME
Tante Lehnsmann brachte mir gestern das Tagebuch als verspätetes Konfirmationsgeschenk. Es sei so sinnig für ein junges Mädchen, sagte sie. Und so billig, dachte ich. Aber nun es einmal da ist, will ich es auch benutzen. Vielleicht entdecke ich dabei noch schriftstellerisches Talent in mir.
Viel passiert zwar nicht in unserem gottvergessenen Nest. Und was passiert, ist kaum des Aufnotierens wert. Aber ich will denken, ich wäre eine berühmte Persönlichkeit und schriebe meine Memoiren. Dabei ist ja wohl dann das Unwesentlichste wichtig.
Also zuerst Vorstellung: Ich heiße Thymian Frauke Katharine Gotteball und bin die Tochter des Apothekers Ludwig Erhard Gotteball in G., einem kleinen, propren Städtchen von 2000 Einwohnern in der Marsch. Die Straßen sind alle schnurgerade und sehr sauber. Gras wächst nicht zwischen den Steinen und die Hühner laufen auch nicht auf dem Pflaster umher. Die Häuser sehen alle so geleckt und glatt aus wie Männer, die eben vom Barbier den Bart abgenommen bekommen haben. Verflucht langweilig ist es in G. Wenn ein Wagen durch die Straßen fährt, läuft alles an die Fenster. Des Abends sitzen die Leute auf Bänken vor der Türe und schwatzen mit den Nachbarn über andere Nachbarn. Und wenn die andern Nachbarn dann dazu kommen, reden sie wieder über andere Nachbarn. Denn »Nachbar« ist hier alles. Auch diejenigen, die an zwei verschiedenen Zipfeln des Städtchens wohnen.
Den verrückten Namen hat meine Mutter für mich ausgesucht. Ich hab’ mich oft darüber ärgern müssen. Die Kinder sagen, er riecht nach Apotheke. Und die Jungen sagen noch etwas viel Schrecklicheres, was ich aber nicht niederschreiben mag.
Meine Mutter war immer kränklich, solange ich denken kann. Ich habe sie nie lachen hören. Wenn sie lächelte, sah sie eigentlich noch viel trauriger aus, als wenn sie ernst war. Wenn ich früher auf dem Marktplatz mit den Kindern spielte und sie am Fenster saß, fürchtete ich mich ordentlich, hinzusehen. Warum, weiß ich nicht. Es gab mir immer einen Stich, wenn ich ihr liebes, blasses, wehmütiges Gesichtchen da sah.
Als ich zehn Jahre alt war, wurde Mutter so krank, daß der Doktor sie nach Davos schickte. Ein ganzes Jahr blieb sie da. Erst fehlte sie mir sehr, aber nachher vergaß ich sie beinahe. Es war während der Zeit sehr lustig bei uns. Vater hatte viel Besuch eingeladen. Die Verwandten kamen auch zuweilen, aber die sind weniger amüsant.
Wir haben viele Verwandte. Mutters Geschwister wohnen alle auf Höfen in der Nordmarsch. Nur mein Onkel Henning und meine Tante Wiebke, Mutters Schwester, wohnen hier. Da ist dann noch Tante Frauke, die mit dem Lehnsmann Pohns verheiratet ist. Sie ist so geizig, daß sie sich vor lauter Geiz beinahe selber auffrißt. Dann Mutters Bruder, Ratmann Thomsen, dann noch ein anderer Bruder, Dirk Thomsen. Dann noch ein Schwager, Hinnerk Larsen, dessen Frau, auch eine Schwester von Mutter, an der Schwindsucht starb. Und noch viele andere. Vater hat nur eine Schwester, Tante Frieda, unverheiratet und bucklig und hier ansässig. Diese kann ich am wenigsten leiden. Sie findet immer was auszustellen an mir. Bald bin ich ihr zu geputzt, bald zu schlappig angezogen. Am liebsten sähe sie es, wenn ich nachmittags immer bei ihr in ihrem Altjungfernkäfig hockte. Aber ich puste ihr was. Vater kann sie auch nicht ausstehen. Die beiden schimpfen sich oft. Ich verstehe nicht, warum Vater ihr nicht längst das Haus verboten hat, wo sie doch immer so eklig gegen ihn ist. Unser Provisor, Herr Meinert, nennt sie »Richter Lynch«. – Wenn er sie vom Apothekenfenster aus mit ihrem großen Brotbeutel von Pompadour am Arm über den Marktplatz gehen sieht, schreit er schon ins Haus: Richter Lynch kommt. Worauf ich mich aus dem Staube mache. Und Vater manchmal auch.
In der Zeit, da Mutter in Davos war, spielte einmal eine Theatergesellschaft im Deutschen Haus. Ich durfte jeden Abend mit Vater oder Meinert hingehen. Einmal spielten sie »Therese Krones«, – das ist ein wundervolles Stück, aber sehr traurig. Ach und die Therese Krones spielte! – Einfach göttlich. Heute weiß ich ja, daß sie sich geschminkt hatte, aber damals war ich paff von soviel Schönheit. Ich war aber damals ja noch ein Kind.
An dem Abend, als Therese Krones gespielt wurde, hatte Vater die Schauspieler zum Abendessen eingeladen. Ich durfte mit am Tisch sitzen. Wir aßen in der besten Stube, und es gab Rotwein und Sekt, und ich bekam von allem ab. Die Schauspielerinnen sangen lustige Lieder und ich wurde auch immer lustiger. Es war riesig fidel. Zuletzt sprang ich auf den Tisch und brüllte immerfort: »Ich bin ’n Pudding! Ich bin ’n Pudding. Schneidet mich an und eßt mich! Ich bin ’n Pudding!«
»Ja, du bist ’n schöner Pudding! Wird sich schon früh genug einer finden, der dich anschneidet!« sagte Meinert, worüber die anderen lachten. Nachher wurde es immer toller. Die Stühle wurden aus der Reihe gerückt und da nicht mehr genug Stühle um den Tisch standen, setzten die Damen sich den Herren auf den Schoß. Therese Krones saß auf Vaters Knien.
Da auf einmal, gerade wie es am schönsten ist, wird die Tür aufgerissen und wer steht da? Tante Frieda! In ihrem alten, langen, verschossenen Regenmantel, den sie, wie man gleich merkt, über ihr Nachthemd gezogen hatte. Der Teufel mag wissen, wer ihr die Chose verraten hatte. Sie war ganz gelb vor Wut und schrie mit überschnappender Stimme wie ’ne heisere Krähe: »Das ist ja hübsch! A ja! A ja! Gut zufrieden! Ich hab dir nix zu sagen, Ludwig! Aber daß dir dein eigenes, leibliches Kind nicht zu gut ist für solche … du … du …« Und sie spuckte aus vor Gift, weil ihr die Luft ausging. »Komm, Thymian! Du bleibst die Nacht bei mir! Pfui, Mädchen, schämst du dich nicht, so unanständig dazustehen, mitten auf dem Tisch …« Und sie wollte mich beim Schlafittchen packen, aber ich, schnell wie der Wind, retiriere und über Gläser und Flaschen und Dessertteller weg aufs Sofa. Und da mit einem Satz rittlings auf Meinerts Schulter, der flog empor und unter lautem Bravo und Hallo mit mir an Tante Frieda vorbei und zur Tür hinaus, die Treppe hinauf. Tante Frieda hinterher: »Geben Sie das Kind her, Sie Liederjahn. Vors Gericht bringen sollte man euch! Thymian, sofort herunter! Schäme dich, Mädchen, schäme dich. Wenn deine arme Stackels Mutter das wüßte …« So schimpfte sie hinter uns her, die Treppen hinauf, und ich streckte die Zunge nach ihr aus und rief in meiner Beschwipstheit: »Richter Lynch! Richter Lynch! Olle dämliche Richter Lynch …«
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