Man sagte ja immer, wer einmal längere Zeit selbständig gewesen war, konnte keinen Chef mehr ertragen, sich nicht mehr unterordnen. Doch das Ausmaß an psychischem Druck, dem der Firmeninhaber ausgesetzt war, wenn sich abzeichnete, dass sich das Geschäft wohl auf Dauer nicht tragen würde, dass die Ausgaben immer etwas höher zu sein schienen als die Einnahmen, egal wie gut es diesen Monat gelaufen war, das konnte sich niemand vorstellen, der nicht dasselbe durchgemacht hatte. Denn man sieht vor seinem geistigen Auge all jene Menschen lachen und mit dem Finger auf einen zeigen, denen es von Anfang an klar gewesen war, dass es sich um eine dämliche Schnapsidee gehandelt hatte. So was kauft doch niemand, waren sie sich einig gewesen. Und man hatte es ihnen allen zeigen wollen. Denn die eigene Firma kam ja nicht nur einem Verlassen des Hamsterrades gleich, sie brachte zugleich die Möglichkeit mit, aus eigener Kraft, ganz ohne Lottoglück, reich zu werden. Wie sollte man das sonst bitteschön bewerkstelligen, binnen einer knapp bemessenen Lebenszeit?
Mit harter Arbeit als Angestellter etwa, um pünktlich zum Lebensende sein Reihenhäuschen abbezahlt zu haben!? Für das Erbe der Kinder?
Das war doch Bockmist!
So stand es jedenfalls in diesen Erinnerungen zu lesen, es war immer wieder so gedacht worden. Dieser Bob war wohl ein kleiner Revoluzzer, ein Nonkonformist, dachte Arthur amüsiert. Langsam lichtete sich auch der Nebel des Alkohols in ihrer beider Gehirn, so dass die Denkerei nicht mehr einem mühsamen Waten durch zähe Molasse glich. Obwohl natürlich auch etwas Wahres dran war, das musste Arthur zugeben.
Als erfolgreicher Unternehmer konnte man in der Tat reich werden.
Die Betonung lag auf „erfolgreich“.
Einem Niedergang der eigenen Firma beizuwohnen, machte ungefähr so viel Spaß, wie ihn auch der Kapitän der Titanic an seinem letzten Arbeitstag empfunden haben mochte: Wenig.
Doch der Kapitän hatte zumindest den einen Vorteil, sich über seine Zukunft keine Gedanken machen zu müssen. Denn der Gedanke an demütigende Sitzungen auf dem Arbeitsamt war wenig erheiternd, sogar fast noch schlimmer als das höhnische Gelächter von Freunden und Familienangehörigen. Doch das Allerschlimmste war der Verlust der Träume, was auch immer sie gewesen sein mögen. Der gute Bob hatte immer von einem eigenen Boot in der Karibik geträumt, die salzige Brise des türkisfarbenen Meeres im Haar und in der Nase, auch wenn Arthur bei diesem Gedanken aufgrund des doch eher unerquicklichen gestrigen Tages zusammenzuckte. Die Eindrücke waren noch zu stark präsent, meine Güte, er hatte das ewige Rauschen des endlosen Meeres immer noch im Ohr, fast wie ein Tinnitus. Aber Bob war wie besessen gewesen von dieser Idee, und als sie sich durch die Pleite seiner Firma für immer in Luft aufgelöst hatte, war etwas in ihm zerbrochen, sein Schwungrad könnte man sagen, sein innerer Antrieb. Dieser war völlig zum Erliegen gekommen, als Folge der Ereigniskette, die angestoßen worden war.
Und dann dauerte es nicht lange, bis man ganz unten angekommen war, so unfassbar es einem zuvor erschienen haben mag. Das ging ganz schnell, und meist war damit eine Endstation erreicht.
Bob hatte aufgegeben und lebte nur noch, weil sein Herz einfach immer weiter schlug, stur und beharrlich, ohne dass er selbst dabei noch ein Ziel verfolgt hätte. Fast schien es so, als freue er sich darauf, bald nicht mehr da sein zu müssen. Traurig. Wirklich traurig. Aber auch ziemlich egal, denn niemand würde ihn vermissen, seine Frau hatte mit einem anderen Mann eine neue Familie gegründet, und seine Kinder sagten wohl mittlerweile „Papa“ zu diesem Kerl. Also was sollte er noch hier?
Mir kommen gleich die Tränen , warf Arthur an dieser Stelle sarkastisch ein. Man konnte sich derart hängenlassen, - musste es aber nicht. Okay, du wirst es wohl auf dein ersehntes Boot in der Dom Rep nicht mehr schaffen, aber dennoch könntest du dich aufrappeln und etwas Nützliches tun!
Mit einsamen Omas im Altenheim Halma spielen, zum Beispiel. Denn das beste Gefühl bekam man nicht beim Raffen und Nehmen, sondern beim Geben. Diese alte Weisheit wurde auch durch moderne psychoanalytische Erkenntnisse gestützt. Geben macht glücklich, und wenn es auch nur etwas eigene Zeit ist, die man zu vergeben hat.
Bob schwieg derweil verdattert angesichts dieser völlig neuen Gedanken in seinem Kopf. Verwirrt rieb er sich die verquollenen Augen.
Hatte er gestern zu dem ganz billigen Fusel gegriffen, oder woher kam das? Er war hier das Opfer, das war doch wohl klar!?
Das Schicksal hatte sich auf die Lauer gelegt, und ihn böse gefoult. Er hatte ein Recht auf sein Selbstmitleid! Und auf die Gedanken an sein Boot und das Meer. Mach wie du meinst, morgen macht eh ein anderer an deiner Stelle weiter, also entspann dich , so die beschwichtigenden Worte des Besuchers in seinem Kopf. Denn dieser verfolgte wie immer eigene Ziele.
Da es gestern etwas ungünstig war, bestand heute vielleicht die Chance, an einen Internetzugang zu gelangen?
Er wollte dringend mal wieder seine Mails checken und den Kontostand prüfen. Hatten alle Überweisungen funktioniert? Es war immer schwierig, die Konsequenzen seiner Interventionen in Erfahrung zu bringen. Oftmals blieb ihm nichts als die Hoffnung, dass seine Anweisungen ausgeführt worden waren, die er in den Köpfen seiner Wirte hinterlassen hatte.
Der Mutter von Marlec hätte Arthur ebenfalls gerne geholfen und ihre Operation bezahlt, doch wie zum Teufel sollte er sie ausfindig machen? Der Bursche hatte kaum etwas gewusst in Bezug auf Ort und Name. Die Begriffe, die er verwendet hatte, waren lokale Bezeichnungen, untauglich als Adressangabe, um einen Brief voller Geldscheine zu verschicken. Er schüttelte frustriert den Kopf und hörte wieder das Meer rauschen, wie es das kleine Boot und alle Hoffnungen darin davongetragen hatte.
Arthur starrte immer noch mit offenen Augen an die niedere Betondecke über sich. Der Ozean von gestern rauschte irritierend beharrlich in seinen Ohren. Fast ein wenig zu beharrlich.
Wenn er es genau betrachtete, dann drang das Rauschen nicht nur aus seiner Erinnerung sondern auch ganz real an seine Ohren.
Es rauschte genau so, wie es große, schnell bewegte und sehr turbulente Wassermassen zu tun pflegten. Er bildete sich auch ein, dass das Rauschen in der letzten Minute lauter, aggressiver geworden war.
Seltsam. Das Meer in Las Vegas!?
Dunkel erinnerte er sich, kürzlich am Himmel eine dunkle Wolkenfront gesehen zu haben, ganz so als würden sich heftige Gewitter ankündigen. Also, dieser Bob hatte sie gesehen, gestern, während Arthur sich auf dem Mittelmeer nach Europa durchzuschlagen versucht hatte.
Denn gelegentlich schaffte es ein Tiefdruckgebiet sogar bis zur Südspitze Nevadas, an den Rand der Mojave-Wüste.
Ein solches Unwetter konnte sogar an diesem unwirtlichen Ort heftige Niederschläge mit sich bringen, die dann im harten, ausgetrockneten Boden kaum versickerten, und über ein Kanalsystem unter der Stadt abgeleitet werden mussten. Darüber hatte er einmal eine Dokumentation gesehen, erinnerte sich Arthur. Doch diesen gedanklichen Faden weiter zu spinnen fiel ihm immer schwerer, angesichts des penetranten Rauschens, das nun fast ohrenbetäubend von der Decke und den Betonwänden reflektiert und verstärkt wurde.
Warum es so lange gedauert hatte, bis bei ihm der Groschen fiel, konnte sich Arthur später selbst nicht recht erklären.
Er war eben oft zu sehr verstrickt in die Befindlichkeiten seiner Gastgeber, was ja auch Sinn der Sache war, denn es war ja an ihm, deren Rolle für einen Tag weiter zu spielen und gegebenenfalls mit eigenen Facetten zu versehen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube.
Nein! So wollte er nicht verrecken!
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