Ostwestfalen morden anders
Dirk-Laker-Verlag
Dirk-Laker-Verlag
www.dilav.de
1 Auflage 2019
Originalausgabe
Veröffentlicht im Dirk-Laker-Verlag
Dirk Laker, Bielefeld 2019
© by Dirk-Laker-Verlag Bielefeld 2019
© der Originalbeiträge bei den jeweiligen Autoren
EBook-Ausgabe
Inhalt
Bianca Schilsong
Verschollen auf dem Leinewebermarkt in Bielefeld
Anja Puhane
16 Stunden, 51 Minuten und 39 Sekunden
Rosemary White
Die Paderborner Morde
Angelika Godau
Traditionen
Britt Glaser
Wer zuletzt lacht…
Brigitte Stammschröer
Bockjagd
Katja Angenent
Wohngemeinschaft mit Fischstäbchen
Greta Welslau
Die Wahrheit macht dich frei
Monika Deutsch
Wie gewonnen, so zerronnen
Charlie Meyer
Ringelreigen
Sarah Drews
Rache
Gabriele Nakhosteen
Eiskalt erwischt
Franziska Franz
´Lippisch´ Roulette
Dinah Marcus
Hoit di voor de Katten, de voorn licken un achtern kratten
Bianca Schilsong
Verschollen auf dem Leinewebermarkt in Bielefeld
Frau Meier, die Klassenlehrerin der 25köpfigen 8a, einer Realschule in Bielefeld, war verzweifelt. Ihre Schülerin war verschwunden. Niemand hatte eine Erklärung dafür. Panisch schaute sich Frau Meier nach allen Seiten um, sie klapperte alle Fahrgeschäfte ab, Imbissstände, Verkaufsstände. Niemand hat Sabine gesehen. Unbegreiflich.
„Wo kann sie nur sein?“, rief Frau Meier, als sie wieder vor ihren Schülern stand.
Die Kinder schauten sich schweigend an, tauschten Blicke aus.
„Nadja, ihr beide ward doch die ganze Zeit über zusammen.“
„Nein, wir haben uns gestritten und sind getrennt weiter gegangen“, erwiderte Nadja kleinlaut.
„Ich habe euch doch ausdrücklich gesagt, dass ihr mindestens in Zweiergruppen zusammen bleiben sollt. Egal was ist. Würdet ihr euch nur einmal an das halten, was man euch sagt!
Es war euch generell verboten, alleine los zu ziehen! Genau um das zu verhindern, was jetzt passiert ist! Wir müssen sie finden!“, rief Frau Meier in verzweifelter Panik, gepaart mit genzenloser Wut. Sie malte sich die schlimmsten Sachen aus. Entführung, Vergewaltigung, Mord. Ihr rechtes Auge begann zu zittern. Immer wenn sie nervös wurde, setzte dieses Zittern am Auge ein. Es machte sie noch nervöser. Sie konnte die Bilder, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten, nicht ausblenden.
„Ihr Kinder habt ja alle Handys. Hat jemand von euch heute Bilder gemacht auf denen Sabine zu sehen ist?“
Kollektives Kopfschütteln, außer bei Sebastian, der langsamen Schrittes, mit dem Handy in der Hand, auf seine Lehrerin zuging und es ihr gab.
„Prima. Kann ich mir dein Handy ausleihen?“
Ein Nicken.
„Bevor noch weitere Kinder verloren gehen“, begann Frau Meier, „bleibt ihr nun alle zusammen hier am Riesenrad stehen. Jule, passe bitte auf, dass alle zusammenbleiben! Ich ziehe noch einmal von Stand zu Stand, zeige das Bild von Sabine, in der Hoffnung, dass doch jemand sie gesehen hat. Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr hier zusammenbleibt? Und wenn ich sage, dass ihr zusammenbleiben sollt, dann tut dies auch!“
Als ein einstimmiges „Ja“ erfolgte, zog Frau Meier guten Gewissens los.
Sie war nervös, hatte panische Angst um Sabine. Ihre Musterschülerin, nur 1er auf dem Zeugnis, nie verhaltensauffällig gewesen, auf sie war immer Verlass. Ihr muss etwas zugestoßen sein. Sie hätte sich niemals alleine, ohne Bescheid zu geben, weggeschlichen. Erneutes Kopfkino.
Sabine nackt im Wald, blutend, zusammengekrümmt voller Schmerzen, ein Mann auf ihr, der ihr Schmerzen zufügte, ihr die Kindheit raubte. Sabine, die lauthals schrie, ohne gehört zu werden. Der Mann würde die Kontrolle verlieren, ihr den Mund zu halten, sie für immer zum Schweigen bringen, Erstickt, im Wald, unter der Erde verscharrt.
„Reiß dich zusammen“, befahl sie sich selbst.
„Entschuldigen Sie, haben Sie dieses Mädchen heute gesehen?“, fragte sie die junge Frau am Luftballonstand, einen Mann an einem Imbissstand und eine Person am Musikexpress.
Sie warfen Blicke auf das Handy. 3 x Kopfschüttelndes „Nein.“
Sie lief zum Hangover , auf den sich Sabine nie getraut hätte, da sie Höhenangst hat. Auch hier erwartungsgemäß betretenes, nicht gerade hilfreiches Kopfschütteln.
Frau Meier lief weiter. Sie schluchzte. Herzklopfen. Schneller Atem. Ihre Hände zitterten, Angstschweiß machte sich auf ihrer Stirn breit. Das Zittern in ihrem Auge wurde stärker.
Sie befürchtete ihre Schülerin nicht mehr lebend zu finden. Was werden die Eltern sagen? Sie würden ihr die Schuld geben. Man würde sie suspendieren, sicherlich dürfte sie nie wieder als Lehrerin arbeiten. Sie musste das Mädchen finden, koste es was es wolle, und zwar lebend und unversehrt. Sie hatte doch ihr ganzes Leben noch vor sich. Wie konnte das gerade unter ihrer Aufsicht passieren? Gerade ihr.
Sie kam zur Sparkassenbühne , auf der heute Abend LEA auftreten würde, die diesjährige Attraktion auf dem Leinewebermarkt in Bielefeld. Aber auch hier konnte man ihr nicht weiterhelfen. Erneut trauriges Kopfschütteln als Antwort.
Sie lief weiter.
„Entschuldigen Sie, haben Sie dieses Mädchen gesehen?“, fragte Frau Meier hoffnungsvoll.
Die Verkäuferin des Süßwarenstandes schaute sich das Bild eine Weile an. Man sah, dass sie überlegte.
„Ja, doch, ich erinnere mich an sie, sie war hier und hat sich Zuckerwatte gekauft.“
Erleichterung, endlich jemand der sie gesehen hatte, eine kleine Spur. Hoffnung keimte in Frau Meier auf.
„Wissen Sie noch wann in etwa sie hier war? War sie alleine?“
„Ja, sie war alleine, aber wann, schwer zu sagen, man verliert hier auf dem Leinewebermarkt schnell jegliches Zeitgefühl. Vor einer Stunde vielleicht?“, meinte die Verkäuferin. In ihrer Stimme lag jedoch keine Spur von Sicherheit.
„Danke, Sie haben mir sehr geholfen!“, bedankte sich Frau Meier und setzte ein Lächeln auf; es wirkte sichtlich gezwungen.
„Eine Frage an Sie, sind Sie die Mutter?“
„Nein, die Lehrerin.“
„Und da lassen Sie das Kind alleine hier über den Leinewebermarkt laufen? Und das in der heutigen Zeit?“, meinte die Verkäuferin einerseits verwundert, andererseits anklagend.
„Sie war ursprünglich nicht alleine. Ich muss weitersuchen. Tschüss!“
Frau Meier hatte keine Nerven, um sich jetzt irgendwelche Anmaßungen von einer Zuckerwatteverkäuferin am Süßwarenstand anzuhören. Sie lief weiter, kam an dem Autoscooter vorbei und später an einem Würstchenstand.
Kopfschütteln. Weiter ging es.
Die kurze Hoffnung, die in ihr aufgekeimt war, verebbte. Sie war kurz vorm Verzweifeln.
„Vielleicht ist sie bei der Radio Bielefeld Bühne?“, überlegte Frau Meier. Nichts wie hin.
„Ja“, nickte eine Frau mit Blick auf das Bild auf dem Handy, als sie dort fragte.
„Das Mädchen war alleine hier, sogar eine ganze Weile. Sie hatte, wie es aussah, Streit mit einem anderen Mädchen. Müsste vor 2 Stunden gewesen sein!“, überlegte die Frau unsicher.
„Ich danke Ihnen. Haben Sie gesehen, wohin sie gegangen ist?“
Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nochmals vielen Dank!“
Erneut stieg Hoffnung in Frau Meier auf.
Sie lief zurück. Kam an weiteren Essens- und Trinkständen vorbei.
Sie rief kurz die Klassensprecherin ihrer Klasse an: „Jule, ist bei euch alles in Ordnung? Alle noch da? Hat Sabine sich bei einem von euch gemeldet?“
„Nein, Frau Meier, hat sich nicht gemeldet, ja, alles in Ordnung und ja, wir sind alle noch da, keine weiteren Vermisstenmeldungen“, antwortete sie.
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