Dem Beamten dämmerte es langsam, dass er der Großmutter seines zukünftigen Chefs gegenüber stand und nahm deshalb das Angebot dankend an, nicht zuletzt, weil er Hunger hatte, bis unter beide Arme. Er biss herzhaft in das fluffige Backwerk.
Zunächst dachte Frau Meyers, er hätte sich verschluckt, als er sich an den Hals fasste und mit erstickter Stimme etwas stammelte, das sie nicht verstand. Dann taumelte der Hüne einige Schritte durch den Flur und fiel, wie ein gefällter Baum, der Länge nach um.
Gelblich-weißer Schaum, mit Schokokrümeln gespickt, quoll aus seinen Mundwinkeln. Es war das Letzte, das Frau Meyers noch wahrnahm, dann kippte auch sie um und blieb regungslos auf den Küchenfliesen liegen.
Der Bestatter schien etwas enttäuscht, hatte er doch gehofft, nach Frau Ahrens und dem Polizisten auch noch die Leiche von Frau Meyers mitnehmen zu dürfen. Stattdessen hatte man den Körper auf einen der Küchenstühle gehievt und befächelte ihn von allen Seiten mit Geschirrtüchern. Als ihr bewusst geworden war, dass der Giftkuchenmörder es auf sie abgesehen haben musste, war Frau Meyers vor Schreck in Ohnmacht gefallen.
„Emily, würden Sie sich bitte solange um meine Oma kümmern, bis ich hier fertig bin?“, hatte Holly Emily gefragt.
„Aber selbstverständlich“, hatte Emily geantwortet und ihm ein Lächeln geschenkt, während sie sich die Gummihandschuhe übergestreift und schmutziges Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte. Holly war überrascht, wie sehr ihn dieses Lächeln berührt hatte. Er konnte nur noch nicht genau sagen, welches Gefühl es in ihm auslöste.
Frau Meyers, die ihre Fassung schnell wiedererlangt hatte, ergoss sich derweil in einem nicht enden wollenden Wortschwall, was ihr alles hätte passieren können. Vom Vergiftet werden bis hin zum Ohnmachtsanfall, bei dem sie sich leicht hätte den Kopf aufschlagen oder das Genick brechen können - alles war dabei.
Emily hörte wie immer geduldig zu. Sie zog die lange gewellte Klinge des Brotmessers vorsichtig durch Daumen und Zeigefinger, um die Schokoreste abzuschlecken. Sie überlegte kurz, ob sie das Messer in den Block auf der Anrichte hinter Frau Meyers schieben sollte. Aber dazu hätte sie sich an der üppigen Frau vorbeizwängen müssen oder sie bitten, ihren Stuhl etwas vorzurücken. Und wenn sie dabei in ihrem wackeligen Zustand stürzte…
Schließlich zwängte sie sich doch an Frau Meyers vorbei, schien es sich noch einmal zu überlegen, denn sie hielt kurz inne. Langsam drehte sie sich zu der unentwegt schnat-ternden Seniorin um. Die hatte ihr den Rücken zugewandt. Emily konnte nicht anders. Sie hob das Messer wie in Trance mit beiden Händen bis weit über ihren Kopf, zielte und…
In diesem Augenblick drang ohrenbetäubendes Scheppern aus dem Nebenraum. Holly war über zwei Zinkeimer gestolpert, als er die Tür aufgestoßen hatte und wie ein angriffslustiger Tiger Emily von hinten angesprungen und zu Boden gerissen hatte.
Seine Oma wunderte sich ein wenig, warum sich ihr Enkel und Emily ineinander verkeilt auf dem Boden wälzten. Durch den Lärm aufgeschreckt eilte auch Rinke hinzu und entriss der jungen Frau das Messer.
„Danke, Chef! Keine Sekunde zu früh!“, keuchte Holly und klopfte sein Sakko glatt.
„Woher wussten Sie, dass es Emily war?“ Der Kommissar konnte eine gewisse Bewunderung in seiner Stimme nicht verbergen.
„Das wusste ich gar nicht! Ich hatte mir erst nichts dabei gedacht.“ Holly hockte sich neben seine Oma, die jetzt stumm und wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl hockte. „Du weißt doch noch“, begann er sanft, „dass ich dich beim Frühstück am Sonntag nach dem Blinken auf dem Display gefragt hatte, und du mir sagtest, du hättest das Telefonklingeln am Abend zuvor nicht gehört. Du warst wieder mal vor dem Fernseher eingeschlafen.“
Frau Meyers seufzte. Sie war noch immer ganz benommen.
„Und heute Morgen fand ich genau dieselbe Telefonnummer auf den Anruflisten von Frau Freese und Frau Schultheiss. Der Mörder hatte es irgendwie geschafft, sie so spät abends noch aus dem Haus zu locken.“ Holly machte eine kurze Pause, dann zeigte er zum Flur. „Die Anrufe kamen vom Münztelefon hier im Gemeindezentrum.“
„Na, das nenn ich mal einen gesunden Schlaf!“ Rinke lachte schallend über seinen Witz. Jedoch als einziger.
Emily versuchte noch immer, sich aus Rinkes festem Griff zu winden. Sie schrie aus Leibeskräften: „Alle hatten sie es verdient! Alllleeee!“
Frau Meyers jagten kalte Schauer über den Rücken, als sie in die wutverzerrte Fratze der jungen Frau blickte. Es war wie die Fratze des leibhaftigen Teufels , wie sie später allen erzählte.
Emily schäumte: „Ihr habt mein Leben für immer zerstört!“ Noch ein letztes Mal versuchte sie sich loszureißen, aber das kalte Metall der Handschellen umringte mit einem Klicken fest ihre zarten Handgelenke.
Ach Erwin, könnte ich dich noch ein einziges Mal sehen , wimmerte sie in sich gekehrt. Tränen unendlicher Verzweiflung quollen aus ihren Augen und über ihre Wangen.
In das Stimmengewirr mischte sich das Quietschen der Eingangstür. Jemand war hereingekommen und ging den Flur entlang auf die Gruppe zu. Sie konnte ihn durch den dichten Tränenschleier erst nicht richtig sehen. Doch dann…. Sie war fassungslos. „ERWIN!“
„Ja“, strahlte der junge Mann und fügte vergnügt hinzu: „Ab heute bin ich hier im Gemeindezentrum der neue Hausmeister.“
Und sie erkannte, sie würde niemals mehr aus diesem Albtraum erwachen.
Angelika Godau
Traditionen
Mit schnellen Schritten ging Hubert auf das Haus zu, registrierte, dass sein Name unverändert an der Klingel stand, obwohl er bereits vor acht Monaten ausgezogen war. Gleich nach der Hochzeit mit Gerlinde war er hierher in ihr Elternhaus gezogen. Der erste Fehler von vielen, die er in den nächsten Jahren gemacht hatte. Er war nicht der Typ für dieses Dorf am Ende der Welt. Blomberg, wer wollte da schon wohnen, und doch hatte er Tag für Tag aneinandergereiht, für Gerlinde, die Kinder, den Hund und natürlich die allgegenwärtigen Nachbarn.
Dreiundzwanzig Jahre hatte er durchgehalten, bis zu diesem Samstagmorgen im April, als Jessica ihm in den Kofferraum gekracht war. Seine Empörung hatte sie weggelacht, ihn auf ein Glas zu sich eingeladen und ihm dann den aufregendsten Sex seines Lebens beschert. Von einer unbekannten Leichtigkeit erfasst, war er später nach Hause gefahren, hatte seine Sachen gepackt, Gerlinde mit knappen Worten mitgeteilt, dass er sie verlassen würde und war zu Jessica nach Bielefeld gezogen.
So stürmisch ihre Beziehung begonnen hatte, so stürmisch ging sie weiter. Er lernte Stellungen und Praktiken kennen, von denen er nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab. An Gelinde dachte er nie, sie war völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden. Erst nach einem halben Jahr war ihm aufgefallen, dass sie nicht ein einziges Mal versucht hatte, ihn zu erreichen.
Das beschäftigte ihn zunehmend. Interessierte es sie überhaupt nicht, wo er sich aufhielt und was er tat? Reichte es, dass er monatlich Geld überwies? War es nur das, was sie all die Jahre von ihm erwartet hatte? Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los, und Jessica war ihm keine Hilfe. Für sie war Sex die Lösung aller Probleme. Sex unter der Dusche, auf der Küchenanrichte, im Treppenhaus, ja, sie schreckte nicht einmal vor dem Fahrstuhl des Finanzamtes zurück. Sie war unersättlich und sicher der Traum vieler Männer, aber er konnte seine Zweifel nicht einfach wegficken. Immer öfter dachte er an vergangene Zeiten, an Ausflüge mit den Kindern, zum Hermannsdenkmal oder zu den Externsteinen. Es musste an der Vorweihnachtszeit liegen, alle Welt wurde sentimental, nur Jessica nicht, die reagierte immer öfter ungehalten auf seine melancholische Stimmung. Als er dann das erste Mal nicht konnte, war sie richtig wütend geworden.
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