Wie zur Bestätigung heult auf der Straße der Porsche der Lübkings auf.
Doktor Schepsmeier zieht die Augenbrauen hoch. „Leonie Lübking“, er kostet die Silben aus, jeder hält den Atem an. Jeder weiß, dass Leonie immer zu spät kommt. Nur ihre Begründungen variieren.
Es folgt nichts, Leonie geht mit wippendem Zopf zu ihrem Platz, wirft ihren Einhornrucksack unter den Tisch.
Ich hab Scheppi neulich mit Mama Lübking gesehen, steht auf dem Zettel, den Ali Ingo zuschiebt.
„Nein“, zischt der ungläubig. Hastig lässt er das Papier unter seinem Heft verschwinden, als Leonie sich zu ihnen umdreht und lächelt.
Es ist das Lächeln, das ihn bis in seine Träume verfolgt. Er lächelt zurück, kann aber keine Reaktion auf dem Gesicht des Mädchens erkennen. Sie scheint ihn gar nicht zu sehen. Dann dreht sie sich wieder um, und er versucht sich einzureden, dass sie ihn angelächelt hat und ein bisschen rosa geworden ist, als er es erwidert hat.
Zehn Uhr, fünf Minuten, 27 Sekunden.
Ingo öffnet seine Brotdose mit den bunten Autos auf dem Deckel.
„Das sieht aber lecker aus!“
Er spürt, wie die Röte in seinem Gesicht aufflackert und hält ihr die Dose hin.
„Möchtest du?“
Leonie schüttelt den Kopf und streicht sich über die Hüften, als ob das eine Erklärung wäre. Vermutlich macht ihre Mutter das auch.
„Wo ist denn eigentlich Ali?“
Die Frage klingt belanglos.
“Hier!“, unterbricht der Gesuchte Ingos Gedanken, die noch im Zustand einzelner Gewitterwolken waren.
Leonies Lächeln verdichtet die Wolken. Ingo reißt seinen Blick von dem Mädchen und blickt den Freund an. Seinen besten Freund.
Ali ist etwas kleiner als er. Klein und drahtig, mit dunklem Teint und schwarzen Haaren, die ein bisschen zu lang sind.
Leonie und Ali lächeln sich an. Sie dreht den Zopf um ihren Finger. Kichert. Die Wolken werden schwarz und schwer.
„Geht Ihr auch heute Nachmittag zum Kinderschützenfest?“, fragt Leonie, dreht weiter an ihren Haaren und sieht Ali an.
„Klar!“, antwortet der und wirft sich in die schmale Brust.
Ich muss zu Hause sein, bevor es dunkel wird, will Ingo sagen, beißt sich aber auf die Lippen. Es tut weh.
„Meine Mama fährt mich. Sollen wir Euch abholen?“
Ali schüttelt den Kopf. „Wir fahren mit dem Rad.“
Die Pausenglocke klingelt. Sie gehen wieder ins Gebäude. Keiner bemerkt das aufziehende Gewitter. Ingos Gedanken kreisen wie ein Tornado. Er wird mehrmals von seinen Lehrern ermahnt. Kann sich einfach nicht konzentrieren. Die Brote liegen schwer im Magen.
Ein Uhr, 45 Minuten, drei Sekunden.
Die Mutter stellt einen Teller mit Fischstäbchen und Kartoffeln vor ihn auf den Tisch. Er will sagen, dass er keinen Hunger hat, dass der Klumpen aus Frühstückbroten noch in seinem Magen liegt. Aber er schluckt es hinunter und schlingt alles in sich hinein.
„Dann scheint die Sonne auch morgen wieder“, lobt ihn die Mutter in ihrem bunten Kittelkleid.
Welche Sonne, da ist keine Sonne, sagt eine kleine Stimme in seinem Kopf. Er lässt sie nicht heraus, sondern nimmt das Eis, das seine Mutter ihm gibt. Trotz allem gibt es ein bisschen Trost.
„Wir wollen heute Nachmittag zum Kinderschützenfest.“
„Wer wir? Doch nicht wieder dieser Ali?“
Seine Mutter mag Ali nicht. Ingo schüttelt den Kopf.
„Ein paar aus meiner Klasse.“
Sie nickt. „Aber nur, wenn du vorher deine Hausaufgaben machst. Und der Rasen muss gemäht werden.“
Es interessiert sie nicht, dass am nächsten Tag Samstag ist. Sie hat ihre Prinzipien, den Kitt ihrer Welt.
15 Uhr, zwei Minuten, 40 Sekunden.
Er wartet an der Ecke auf Ali. Seine Mutter muss ihn nicht unbedingt sehen, sonst ruft sie ihn doch noch unter einem Vorwand zurück.
„Und sei zu Hause, bevor es dunkel ist!“, hat sie ihm hinterher gerufen. Er weiß nicht, ob ihr klar ist, dass es der längste Tag des Jahres ist. Und dass er hier, am Nordpunkt, besonders lang ist. Der längste Tag. Er seufzt. Die letzten Stunden waren schon lang genug.
Ali ist erstaunlich pünktlich. Er trägt eine neue Jeans und ein frisches Shirt. Auf seiner Brust prangt Thor, lässig auf seinen Hammer gestützt. Ingo streicht verlegen über Bumblebee, den ein Fettfleck ziert.
Sie reden nicht, als sie am Rand des Festplatzes auf Leonie warten. Sie kommt mit einer Viertelstunde Verspätung. Ihre Erklärung rauscht an beiden vorbei. Ingo bemerkt, dass Ali mit Thor um die Wette grinst.
Er kauft Cola für alle drei, das Geld hat er seiner Großmutter aus der Schublade geklaut. Mit den Getränken stehen sie vor der Reithalle, in der es Kakao und Kuchen für die Kinder gibt. Leonie nuckelt an ihrem Strohhalm und schaut auf ihre Füße, die in pinkfarbenen Sandalen stecken. Die Zehennägel sind Türkis. Ingo kann seinen Blick nur schwer davon lösen.
Die Alternative ist nicht besser. Er schaut zum Bierstand. Ein anderes Bild schiebt sich vor seine Augen. Seine Mutter im Sommerkleid, die blonden Haare zu Locken gedreht. Wie sie dem Fremden zuprostet. Der Mann in Jeans und Shirt. Auf dem Shirt steht der Name irgendeiner amerikanischen Universität. Seine Mutter schwankt leicht, Spritzer von ihrem Bier landen auf dem Hemd des Fremden.
Ingo blinzelt, er will das nicht sehen, und schon gar nicht das, was danach kam.
Als sie in der Halle sitzen und Donauwellen in sich hineinschaufeln, lächelt Leonie ihn an. Endlich. Sein Herz wird warm. Jetzt wird alles gut, denkt er.
Der Moment endet, als Leonie sich an Ali lehnt. Ingo befördert ein großes Stück Kuchen in seinen Mund. Das hat noch immer geholfen. Er denkt an den tröstlichen Pudding, den seine Mutter ihm kocht. Vanille und Schokolade für die Seele. Die Masse in seinem Mund schmeckt bitter, nimmt an Volumen zu. Er versucht sie mit Kakao hinunterzuspülen, während Leonie über einen Spruch von Ali lacht. Der Freund lächelt ihm zu, wie er immer lächelt. Fröhlich und offen.
Ingo will nicht hinsehen, geht zum Toilettenwagen. Als er zurückkommt, sind die beiden verschwunden. Nur ihre leeren Becher und Pappteller stehen noch auf dem Tisch.
Ingo wirft sie in den Mülleimer, um den Fliegen und Wespen kreisen, dann läuft er kreuz und quer über den Platz.
Das Rad von Ali steht immer noch neben seinem. Er geht zu der Frau am Eingang der Reithalle, fragt nach seinen Freunden. Die schüttelt den Kopf. Viel zu viele Kinder, wie soll sie sich da an zwei erinnern können. Sie ahnt nicht, dass sie diesen Satz noch häufiger sagen wird.
Ingo schlendert Richtung Aue, läuft an der Straße entlang, als ob ihn etwas zöge. Versucht an nichts zu denken. Das Nichts hat das fröhliche, rotwangige Gesicht der Mutter, das hochrote Gesicht des Vaters und das verschwommene Gesicht des Fremden. Immer wieder schieben sich die Gesichter von Leonie und Ali davor.
Dann hört er die Stimmen. Leise, fast übertönt vom Glucksen der großen und der kleinen Aue, die sich vereinigen.
Ingo geht die Böschung hinunter zum Wasser. Dort sitzen die beiden, die Köpfe nah beieinander und flüstern. Das Wispern kommt ihm verdächtig vor, spöttisch. Als ob sie sich über ihn lustig machen. Über den dicken kleinen Ingo mit dem alten T-Shirt und den zu kurzen Hosen. Und den Eltern, von denen jeder weiß, was sie getan haben. Plötzlich versteht er, was seine Mutter meinte, als sie sagte, sie hätten weg gehen sollen. Aber wohin? Und jetzt ist es zu spät.
„Da seid ihr ja!“, ruft er fröhlich.
Die Freunde zucken zusammen, rücken ein Stück voneinander weg. Leonie wird ein bisschen rot.
„Störe ich?“
Beide schütteln den Kopf. Ingo setzt sich neben sie, schaut auf das Wasser. Alle drei schweigen, bis Leonie anfängt, eine Geschichte über den Hund der Nachbarin zu erzählen. Sie verheddert sich in Details, schweigt dann einfach, ohne dass die Geschichte ein Ende hat.
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