„Ich muss nach Hause, bevor es dunkel ist“, sagt Ingo in die Stille hinein und erhebt sich.
„Dann bis Montag!“, ruft Ali.
Ingo klettert die Böschung wieder hoch. Geht Richtung Reithalle. Er blickt auf seine Kinderuhr. 18 Uhr 42. Noch drei Stunden, zehn Minuten bis zum Sonnenuntergang. Seine Mutter wird ihn nicht fragen, warum er so früh wieder da ist. Sie wird ihn auch nicht fragen, warum er das Wochenende auf seinem Zimmer verbringt. Sei fragt nur, ob er seine Aufgaben erledigt hat.
Er geht zur Aue hinunter, setzt sich ans Ufer und starrt auf das Wasser. Es gluckst eine Geschichte, die keiner versteht, während die Bäume Antworten auf Fragen wispern, die keiner gestellt hat.
Vielleicht sind es aber auch die Antworten auf seine Fragen. Wie geht es weiter? Die nächsten drei Stunden und die nächsten fünfzig Jahre oder so. Eine unermesslich lange Zeit, die ihm unfassbar düster erscheint. Fünfundzwanzig Jahre sind nichts dagegen.
Ali, sein allerbester Freund. Dachte er.
Leonie, ein wunderbares Wesen. Oder auch nicht.
Freundschaft, was zählt das noch? Die große Aue lacht ihn aus. Wie konnte er nur an so etwas glauben?
Er stellt sich vor, wie er zu den anderen zurückgeht und alle drei zusammen darüber lachen, dass er sich ausgeschlossen fühlte. Betrogen. Dass er dachte, sie würden ihn das ganze Wochenende nicht sehen wollen. Die Schützenfesttage ohne ihn verbringen.
Nein, sie würden zusammen lachen. Wie beste Freunde; für immer.
Niemals würden sie ihn ansehen, als ob sie hoffen, er würde möglichst schnell wieder verschwinden. Kein verärgerter Blick von Leonie. Keine zusammen gezogenen Augenbrauen von Ali.
Kein Stein in seiner Hand. Kein Schrei, kein Blut. Keine Mädchenfäuste, die auf seine Brust schlagen. Keine blonden Haare, durch die Blut sickert. Keine Körper, die ins Wasser fallen. Kein Stein, von dem die Aue das Blut abwaschen muss.
Nichts von dem. Die Aue fließt weiter, als ob nichts passiert wäre. Er starrt immer noch auf das Wasser.
21 Uhr 30.
Er hat noch 22 Minuten, um nach Hause zu fahren. Um zur Reithalle zurück zu gehen. Noch einmal die Leute nach seinen Freunden zu fragen. Sein Fahrrad aufzuschließen. Einen Blick auf das verlassene Rad von Ali zu werfen. Aufs Rad zu steigen und nach vorne zu blicken. 22 Minuten, Zeit genug.
Ihm fehlen drei Stunden davor. Drei Stunden, die er am Ufer der Aue sitzend verbracht hat. Zeit, die sein Hirn einfach ausgeblendet hat. Kann man so lange am Wasser sitzen? Kann man so sehr die Zeit vergessen?
Er steht vor der Haustür, während hinter ihm der Tag versickert. Kann einen Moment lang weder vor noch zurück. Fühlt sich alt und doch ganz klein. Vermisst den Vater. Würde ihn gerne etwas fragen und kennt die Frage nicht.
Seine Mutter nimmt nur wahr, dass er zu Hause ist, bevor es dunkel wird. Wie dunkel es vorher schon geworden ist, sieht sie nicht.
Rosemary White
Die Paderborner Morde
Enttäuscht schaltete Emily das Radio aus. Den ganzen Tag über hatte der Nachrichtensprecher gleich zu Beginn der Sendung das Ergebnis der Abstimmung Soll der Bücherbus weiterfahren? Ja oder Nein? vorgelesen.
Sie goss den heißen Kaffee in die Thermoskanne und stellte sie auf das vollgeladene Tablett.
Beim Anblick des schwarzen Kaffees musste sie unwillkürlich an das dicke schwarze Kreuz denken, dass sie auf ihrem Stimmzettel bei Ja gemacht hatte. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass der Bücherbus nicht mehr fährt. Aber irgendwelche Banausen hatten offensichtlich doch die andere Möglichkeit, nämlich Nein ,angekreuzt.
Sie balancierte das Tablett quer durch das Gemeindezentrum, bis ans andere Ende des Flurs. Dabei kündigte das leise Klirren der Porzellantassen allen in der Bastelgruppe die heißersehnte Kaffeepause an.
Emily erhaschte noch einen kurzen Blick aus dem Flurfenster, vor dem im Licht der Straßenlaternen dicke Schneeflocken wie ein weißer Vorhang sanft zu Boden glitten. Die ersten in diesem Winter, dachte sie und lächelte. Von Ferne schlug die Domuhr Vier, und Emily betrat den hellerleuchteten Raum.
Die anwesenden Herrschaften befanden sich mitten in einer lebhaften Diskussion über das hochaktuelle Thema – den Bücherbus.
„Ah, unsere gute Fee!“, rief Herr Schneider, ein ehemaliger Orgelbauer und einziger Mann unter den fünf rüstigen Rentnerinnen. Dabei breitete er seine Arme aus, als hätte er gerade einen Rockstar angekündigt.
Emily, die sich stets gerne im Gemeindezentrum nützlich machte, war allerdings weit entfernt von dem, was man landläufig als glamouröse Erscheinung bezeichnen würde. Mehr als ein verlegenes Lächeln brachte sie nicht über sich. Sie wirkte eher wie ein verschüchtertes kleines Mädchen, als eine lebenslustige Vierunddreißigjährige.
Niemand hatte sie jemals in einem anderen Outfit erlebt, als dem wallenden Faltenrock, der ihr fast bis zu den fellgefütterten Winterschuhen reichte. Zudem war sie stets in eine beigefarbene Strickjacke gehüllt, deren Rautenmuster die einzigen Erhebungen auf ihrem sonst flachen Körper formten. Eine große Brille und kinnlange, braune Haare schirmten das Gesicht hermetisch nach außen ab. Dabei hatte sie sehr schöne, haselnussbraune Augen.
Emily schenkte den Kaffee aus, und Frau Freese, die den Apfelstrudel erst vor zwei Stunden frisch aus dem Ofen gezogen hatte, reichte ihn voller Stolz von einem zum anderen. Bald war der ganze Raum erfüllt vom wohlig warmen Duft des frischgebrühten Röstgetränks und frischem Gebäck. Eine wunderbare vorweihnachtliche Stille breitete sich aus, während alle Anwesenden die Köstlichkeiten genossen.
Fräulein Pöppelmann, die ehemalige Lehrerin an der Grundschule, griff nach einem weiteren Kuchenstück und ließ, um von diesem Umstand etwas abzulenken, die Diskussion erneut aufflammen.
„Trotzdem dürfen wir die Jungen und Alten in den Dörfern nicht vergessen“, dozierte sie, als hätte sie Erstklässler vor sich sitzen. Und nachdem niemand im Raum reagierte, fügte sie etwas verärgert hinzu: „Die, die keinen fahrbaren Untersatz haben, meine ich. Außerdem, was soll denn der arme Fahrer jetzt machen? Er hat doch bestimmt keine Arbeit mehr.“ Sie blickte fragend in die Runde.
Herr Schneider, der direkt neben ihr saß, nickte beifällig und nahm sich ebenfalls noch ein Stück Kuchen.
Die anderen vier Damen, alle in ihren Siebzigern, und Emily schwiegen zunächst. Ihnen schien bei dem letzten Satz das trockene Stück Kuchen wie ein Kloß im Halse festzustecken.
Emily umfasste ihr Stück Strudel zärtlich mit beiden Händen, als könnten die Wärme und der Duft etwas von ihrem Liebeskummer nehmen.
Sie hatte Erwin vor sechs Monaten zum ersten Mal gesehen, damals als sie das erste Mal den Bücherbus betreten hatte. Seitdem war Erwin, der Bücherbusfahrer, zu ihrem Lebenselixier geworden, wenn er jeden Montag Halt vor dem einsamen Gehöft machte, in dem sie und ihre bettlägerigen Eltern wohnten. Eine ganze Stunde lang hatte sie dann in seinem Bus zugebracht und ihn heimlich beobachtet, wie er ihren selbstgebackenen Kuchen aß und den mitgebrachten Kaffee trank. Ein echtes Highlight.
Frau Ahrens‘ schriller Einwand riss Emily aus ihren Gedanken.
„Ich fand den Bücherbus schon lange überflüssig!“ Sie fuchtelte mit der Kuchengabel in der Luft herum. „Die jungen Leute von heute lesen doch gar nichts mehr und wenn, dann nur noch irgendwelchen Kram auf ihren Handys.“ Mit diesen Worten spießte sie ein Stück Kuchen auf und schob es sich in den Mund.
Von der Vorrednerin tief beeindruckt, trauten sich jetzt auch die anderen Drei ihre offensichtliche Wahl zu rechtfertigen. Frau Schultheiss und Frau Freese stimmten gemeinsam einen Kanon an, in dem sie den Bücherbus als lästige Konkurrenz zu ihrer kleinen Bibliothek im Pfarrheim verunglimpften. Und sie seien beide froh, dass dieser Zigeunerwagen , wie sie ihn nannten, endlich weg ist.
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