Bemerkbar machen sich die Erfahrungen, die sie wohl kurz nach Kriegsende gemacht haben muss, als es gar nichts gab. In den Läden gab es nichts zu kaufen und wenn doch, dann hatte das Geld nicht gereicht. Sie hat häufig davon erzählt, dass sie oft froh war, überhaupt manchmal etwas zu essen gehabt zu haben, ganz gleich was. Hauptsache war, etwas zwischen die Zähne zu bekommen, insbesondere in der kalten Jahreszeit.
Sie hat auch oft davon erzählt, wie sie und ihr erster Mann, sich gerade in dieser Zeit auch noch ein Haus gebaut haben. Außer dem Grundstück, das ihr Mann nach dem Ableben seiner Eltern erben würde, hatten sie nichts. Eigenhändig mit Spaten und Schaufel hätten sie ausgegraben, hätten gemauert, hätten die Balken montiert und seien freihändig auf den Dachbalken herumgeklettert, als dann das Dach montiert wurde. Sie hatte es sicherlich nicht leicht. Diese Zeiten sind aber nun vorbei, Gott sei Dank.
Kartons, Holz- und Plastikboxen, Kunststoff- und Blechdosen, Eimer und Schüsseln, also alles, in das man etwas entleeren kann, suche ich im Haus zusammen, um die zum Teil bereits über Jahre abgelaufenen Lebensmittel den Vorschriften entsprechend entsorgen zu können. Bei dieser Arbeit begegnet mir wieder in Teilen der Geruch, den ich bei Betreten der Wohnung zu Beginn bereits wahrgenommen hatte.
Ich mache mir doch tatsächlich die Arbeit und öffne jede Verpackung und schütte letztendlich den Lebensmittelinhalt in die Biomülltonne. Die Kartonverpackungen fliegen in den Papiercontainer und die anderen Verpackungen je nach Material in den gelben Sack als wiederverwertbarer Rohstoff, also Plastik, Aluminium und so weiter.
Nudeln, Cornflakes, Pudding- und Soßenpulver, Reis, Klöße, Marmelade-, Gurken-, Zwiebeln-, Paprika- und Bohnengläser, Obst-, Wurst- und Suppenkonserven, die ganzen Gewürze, alles muss entsorgt werden, weil das Verfallsdatum bereits mehrere Monate und Jahre, in Einzelfällen über zwanzig Jahre, bereits abgelaufen ist. Ein paar Blechdosen sind bereits so aufgebläht, dass sie bauchig geworden sind. Zwei davon sind bereits aufgeplatzt und der Inhalt ist ausgelaufen und klebt nun schwarz, wie Pech und Schwefel gleichermaßen, an den Regalteilen.
Was für eine Verschwendung! Was hätte man mit dem Geld alles kaufen können, wenn man es nicht fürs Horten und Anhäufen von Lebensmittel, die hier kaputtgegangen sind, ausgegeben hätte. Mutter ist da irgendwie der Realität entglitten. Die Erfahrung aus der Zeit, in der es nichts gab, hat wohl ihr Verhalten in dieser Hinsicht geprägt. Offensichtlich wollte sie diese Erfahrungen nie wieder machen: Hungern, weil man nichts hat. Die Zeiten entwickelten sich zu unseren Gunsten so, dass wir in unserem Land seitdem alle satt wurden und genug zu essen hatten. Und wie man sieht, werden wir so sehr satt, dass Lebensmittel verderben, „… während es immer noch Länder und Gegenden gibt, in denen Hunger und Not herrschen“, geht mir ergänzend durch den Kopf.
Nach etwa drei Stunden breche ich diese Arbeit ab und nehme mir vor, an einem anderen Tag daran weiter zu machen. Für heute habe ich genug von dem verdorbenen Gestank gerochen. Eine angenehmere Tätigkeit, allerdings auch intellektuell etwas anspruchsvoller, ist die Durchsicht der schriftlichen Dinge. Das aber ist eine Arbeit, die ich einpacken und mit nach Hause nehmen kann. In Schachteln zusammengetragen nehme ich verschiedene Ordner, Hefte, lose Blätter, Fotos, Handaufschriebe, geöffnete und ungeöffnete Briefe vom Schreibtisch aus ihrem Schlafzimmer mit und trage sie ins Auto. Die durch den Briefeinwurfschlitz in der Haustüre geworfene und nun seit einigen Tagen im Eingang liegende Post und die Zeitungen lege ich ebenfalls in eine der Schachteln. Bei der Grobdurchsicht dieser Dokumente erkenne ich, dass ein riesiger Berg an Arbeit noch vor mir liegt: Das erste, was ansteht, sind die Kündigungen von Rundfunkgebühren und Telefon, dann die Ummeldung bei den Kommunen, der Krankenkasse, Rentenstelle und so weiter.
„ Oh je“, beginne ich zu seufzen und sehe mich ein wenig hilflos in ihrem Schlafzimmer um. Neben dem Schreibtisch steht ihr Bett, dahinter ein total verstaubter Nachttisch, auf dem ein Gebetbuch, daneben ein etwa fingergroßes Kruzifix und ein Rosenkranz liegen. Dem Schreibtisch gegenüber steht ihr Kleiderschrank, der vollgestopft ist mit Kleidung, von der sie das meiste seit Jahren nicht mehr getragen hat, weil sie da einfach nicht mehr reingepasst hat.
Ich erhebe mich langsam und wechsle ins kleine Zimmer, in dem sie sich die letzten Monate und Jahre am liebsten aufgehalten hat. Der Fernseher steht jetzt im Heim in ihrem Zimmer, inklusive des Sideboards, auf dem das Gerät stand. Ein überladener Bücherschrank steht noch an der Wand gegenüber dem Fenster. „Oh Mann, das gibt erst Arbeit …“, grolle ich so vor mich hin.
Auf der Suche nach Behältnissen für die Lebensmittelabfälle habe ich versucht, abzuschätzen, wieviel Arbeit an anderen Stellen im Haus noch anfallen wird, und bin zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Woche Urlaub wohl nicht ausreichen wird. Das wird sich auch sehr schnell als eine richtige Vermutung herausstellen. So schließe ich nun alle Fenster wieder und hinter mir dann auch die Türe.
In der kommenden Zeit wird sich vieles ändern, obwohl sich dies zunächst nach außen so überhaupt nicht zeigen wird. Zu diesem Zeitpunkt ist mir noch nicht klar, dass mich überdies auch die Vergangenheit einholen und mich in der darauffolgenden Zeit voll und ganz beschäftigen wird.
Eine Woche reicht bei weitem nicht aus, ein Haus mit insgesamt vier Etagen auf- und auszuräumen. Das ist mir jetzt auch klar. In der Zwischenzeit, etwa drei Monate später, ist im Haus nun doch so ziemlich alles umgekrempelt, und kaum etwas steht mehr da, wo es anfangs noch stand. Ordnung ist das halbe Leben, kriegt man das nicht schon in jungen Jahren beigebracht? Als Erwachsener sollte man das auch selbst praktizieren. Offenbar hatte Mutter eine eigene Definition für Ordnung. Nun, im Verlauf ihrer dementiellen Entwicklung gelangte dieser Begriff aus der Sicht des Normalbürgers und dessen Verständnis dafür bei ihr wohl ins Hintertreffen oder wurde von ihr einfach nicht mehr richtig interpretiert.
Jetzt jedenfalls ist alles zusammengetragen, was zusammengehört: Im Keller Wein und Spirituosen, Staubsaugerartikel, Kerzen, Packpapier, Elektrokleinzeug, ein Schlauchboot, Reinigungsmittel, Kartons, leere Einmach- und Honiggläser, noch eingemachtes Obst, wobei ich da nicht sicher bin, ob das noch genießbar ist und leere Plastik- und Blechdosen. Im Erdgeschoss sind Bücher, Fotoalben und lose Fotos, gestickte Bilder, Tischdecken, Küchengeräte, Geschirr und Besteck und im Obergeschoss Bettdecken und Kissen aller Art, Gobbelin-Bilder unterschiedlicher Motive, Handarbeitszeug zum Häkeln, Sticken, Flicken und Stricken, christliche Figuren, die Briefmarkensammlung, Schallplatten und Kleidung.
Wo ich noch nicht begonnen habe, aufzuräumen, ist auf dem Dachboden. Und um mir zunächst einmal einen Überblick zu verschaffen, begebe ich mich über die Falltür im Obergeschoss auf den Dachboden. Direkt unter den Ziegeln herrschen jetzt im Hochsommer Temperaturen, die einen dazu veranlassen, sofort wieder rückwärts nach unten zu gehen.
Bevor ich mich jedoch hierfür entscheide, möchte ich mich nur mal kurz umsehen, und die Arbeit abschätzen, die auch hier noch auf mich wartet. Ich sehe ein großes und ein kleines Aquarium. Oh ja, ich hatte gegen Ende meiner Schulzeit und während meiner Berufsausbildung Fische. Danach musste ich beide Becken auflösen, weil meine Eltern nicht bereit waren, die Pflege der Fische während meines damaligen Dienstes bei der Bundeswehr und des darauffolgenden Studiums zu übernehmen. Die Tiere habe ich einem befreundeten Aquarianer gegeben. Seitdem stehen die Glasbehälter nun zusammen mit den dazugehörigen Geräten und Schläuchen hier auf dem Dachboden. Weiter hinten stechen mir Skier ins Auge. „Die stehen da ja auch schon Jahrzehnte“, geht es mir so durch den Kopf. Auf der rechten Seite befindet sich ein Schrank. Neugierig öffne ich eine der Türen. Kleidung von anno dazumal. Auf der Hutablage greife ich nach einer alten vergammelten Schachtel, die alleine bei meiner Berührung beinahe schon auseinanderfällt. Im Inneren befindet sich ein nagelneuer Zylinder mit Samtbezug. Etwas ganz Edles. Ich setze mir das Teil kurz auf. Schade, etwas zu klein, bei einer kleinen Bewegung fliegt das Teil weg, überlege ich und packe das gute Stück wieder in den gerade noch halben Karton und lege es bereit zum Mitnehmen. „Der ist zu schade zum Hierlassen“.
Читать дальше