„ Wie früher“, geht mir durch den Kopf, „als Mutter noch der Chef hier war und alles selbst gemacht und vieles gemanagt und überwacht hat“. Ja, sie hat auch selbst kräftig daran mitgearbeitet, damit der Garten dann tatsächlich so aussah, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Ich ärgere mich über mich selbst: Bin ich etwa nachtragend? Aus dem eben getätigten Gedanken klingt der Vorwurf heraus, dass sie es wohl prächtig verstand, ihren Dickkopf durchzusetzen. In anderen Worten: Alles musste immer nach ihrer Pfeife tanzen, damit das Ergebnis dann auch so wurde, wie sie das haben wollte.
„ Es war ja auch ihr Garten, und wir, wir alle in der Familie, die ihr tatkräftig immer geholfen haben, wir haben ja auch ein bisschen Gartenhandwerk dabei gelernt. Sie war eigentlich doch eine herzensgute Frau“, versuche ich, meine Gedanken auf die gute Seite zu ziehen. „Sie hat doch immer versucht, jedem nur Gutes zu tun, halt auf ihre Art, …“.
Ich werde jetzt wohl am besten mit dem beginnen, weshalb ich überhaupt hier bin. Mit einem Seufzer bewege ich mich vom Auto weg, gehe durch das Gartentor in Richtung Haustüre. Auf dem Weg dahin nehme ich alle möglichen Gerüche der Pflanzen wahr, an denen ich vorbeigehe. Ja, die Blumen habe ich in den letzten Jahren gar nicht mehr so gerochen. Sicherlich haben diese Pflanzen genauso geblüht und geduftet wie auch jetzt, aber die bisherigen Umstände ließen den Genuss der Natur einfach nicht zu. Seit Mutter weg ist, fällt die Anspannung spürbar ab, bei mir jedenfalls. Sicherlich wirkt sich das auch auf das Empfinden meiner Umwelt aus.
Ich erwäge, zuerst einmal außen herum zu gehen, bevor ich mich im Haus umsehe und biege vor der Haustüre links ab und gehe vorbei an der Außenwand des Wohnzimmers. Auf der linken Seite liegt wieder eines dieser Blumenbeete, die Mutter ehemals angelegt hat. „Wenn ich nur wüsste, was das alles für Blumen und Pflanzen sind“, geht mir durch den Kopf. Wie man das alles anpflanzt hat sie mir beigebracht, aber was das alles ist, welche Blumen das sind, wie die heißen und so weiter, das habe ich bis heute nicht drauf. Im Weitergehen setze ich meine Gedanken fort: „Daran war aber nicht sie, sondern vielmehr ich mit meinem Desinteresse am Gärtnern schuldig“. Ich hatte einfach nicht den richtigen Zugang zu diesem Thema, stelle ich selbstkritisch fest.
Mein Blick wandert in die hintere Ecke am Ende des Gartens. Dort stehen sie immer noch, die Himbeeren, die im Spätsommer wohl wieder tragen werden. Ja, die Namen der Früchte hatte ich gleich drauf. Das liegt wohl daran, dass das etwas zu Essen war. Im Wettbewerb um Geschmack verlieren halt nun mal Blumen schneller als Beeren. Zumindest bei mir.
Ich biege um eine weitere Hausecke und befinde mich schon auf der Terrasse. Eine Gartenbank, ein kleiner Tisch und ein Gartenstuhl laden zum Verbleib ein. Auch hier wieder eine Pflanze: Im großen Topf ein mit wenigen dunkelrosaroten Blüten bestückter, sehr astreicher Strauch.
Die Terrasse könnte man auch mal fegen, geht mir durch den Kopf. Jetzt aber gibt’s Wichtigeres zu Tun. Meine Hand wandert automatisch in die Hosentasche und zieht den Schlüsselbund hervor, den ich eben erst nach dem Aussteigen aus dem Auto eingesteckt hatte und automatisch wähle ich aus etwa acht Schlüsseln den aus, der in die Türe passt, die von der Terrasse ins Haus führt. Für uns war das früher immer die „hintere Türe“ im Gegensatz zur „Haustüre“.
Nach dem Öffnen gelange ich in den Flur. Ein stechend beißender Geruch liegt in der Luft, es riecht insgesamt undefinierbar alt, sicherlich eine Komposition verschiedener Geruchsquellen: Nicht richtig beseitigter Monate, vielleicht sogar Jahre alter Staub, verdorbene Lebensmittel, Urin und Schweiß. „Jetzt ist sie schon zwei Wochen weg und es riecht immer noch so“, stelle ich fest. Sie kam zuerst ins Krankenhaus, dann ins Pflegeheim. Sie konnte einfach nicht mehr zuhause bleiben.
Mein Weg führt direkt in die Küche und ich öffne das Fenster, „Frischluft herein lassen“, ist mein erster Gedanke. Einfach mal durchziehen lassen. Nach und nach öffne ich auch die Fenster in den anderen Zimmern. Damit wird die stehende, schlechte Luft schneller ausgetauscht. „Das können wir zunächst mal so lassen, solange ich da bin“, denke ich und gehe zurück in die Küche. Dort öffne ich den Kühlschrank.
Abgelaufene Lebensmittel quellen mir entgegen. Ich wusste schon lange, dass dieser Moment kommen würde, der nun vor zwei Wochen eingetreten ist und was mir jetzt infolge dessen blüht. Und der Zustand im Kühlschrank ist nur der kleinste Bruchteil von dem allem, was noch vor mir liegt, darüber bin ich mir voll und ganz im Klaren.
Eine Plastikdose mit Wurst ist das erste Teil, das ich aus dem Kühlschrank nehme, es öffne und auf dem Küchentisch abstelle. Die Wurst ist noch in das Papier eingepackt, in die der Metzger sie eingewickelt hatte. Vielleicht hat Mutter schon eine oder zwei Scheiben davon gegessen, der Rest ist jetzt schmierig und eigentlich ungenießbar. Ich hole den Mülleimer aus der Ecke hinter der Türe hervor, in dem bereits Lebensmittelreste vor sich hin schimmeln, um jetzt auch die Wurst darin zu entsorgen. Danach sind Käse, Butter, Marmelade, Konserven und Eingemachtes dran, das auf Mutters Wunsch im Kühlschrank ebenfalls eingelagert wurde. Alles muss jetzt irgendwie auf Genießbarkeit untersucht und gegebenenfalls entsorgt werden. Und das betrifft eigentlich fast alles, was hier zu finden ist. Leider ist so ziemlich alles abgelaufen und demzufolge garantiert auch ungenießbar.
Mutter litt schon lange an Demenz, zuerst schwach, dann immer stärker. Sie konnte einfach nicht mehr alles das überwachen, was überwacht werden musste. Dies betraf insbesondere die Genießbarkeit von Lebensmitteln. Außerdem kam es immer wieder mal vor, dass Brötchen und Brotscheiben im Kühlschrank zu finden waren, einem Ort, an den diese Dinge einfach nicht hingehören. Nun, Mutter war einfach nicht mehr die Jüngste. Allerdings stand sie nicht zu ihren Fehlern und ließ sich demzufolge auch nicht helfen und schon gar nicht belehren.
Sie hielt es auch mit der Körperhygiene nicht so genau. Was war das immer für eine Diskussion, wenn es um dieses Thema ging. Auch der regelmäßige Wechsel der Unterwäsche wurde von ihr torpediert. Das war oft ein Kampf, der einfach nicht hätte sein müssen. Kräftezehrend! Mit Grauen denke ich daran zurück und bin froh, dass diese Zeiten jetzt vorbei sind, zumindest hier zuhause. Ich hätte ihr schon gerne noch einige Zeit in ihren eigenen vier Wänden gegönnt, sie auch gerne weiter gepflegt, wenn dieser Terror, dieses ständige Herumgemosere, die andauernde Unzufriedenheit mit sich und der Welt nicht gewesen wären. Und egal, was man bei ihr und für sie machte: Nichts war ihr recht, ob es aufräumen war, putzen, Geschirr spülen, umräumen bei den Dingen, die sie „versehentlich“ und „irrtümlich“ falsch aufgeräumt hat oder was auch immer.
Jetzt jedenfalls startet für mich nun ein langer Prozess des Aufräumens, der mit der Entsorgung unzähliger nicht mehr genießbarer Lebensmittel beginnt. Dabei macht der Kühlschrank nur den Anfang. Der vor etwa vierzig Jahren eingebaute Küchenschrank mit Ober- und Unterzeile quillt über vor Lebensmitteln, die sich an Stellen befinden, wo sie niemals hätten eingelagert werden dürfen. Wehe dem, der sich dagegen aufgebläht hätte. Mir war klar, dass bei ihr die Sache mit dem Haushalt ausufert, weil sie es einfach nicht mehr auf die Reihe bekommen hat. Aber ich hätte mich niemals dagegen auflehnen dürfen, von wegen die Sache dann selbst angehen und aufräumen und so. Pest und Cholera hätten mich sonst geholt! Mutter hatte wohl geglaubt, sie würde bestohlen werden, oder sie würde arglistig um das gebracht werden, was sie sich hart erarbeiten musste in den vielen Jahren zuvor.
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