‘Du hast wahrscheinlich Recht. Aber ich weiß nicht so recht, ob mir das gefallen hätte. Denn ich kann mit dir irgendwie als Chiòcciola besser sprechen, als in der Rolle als Rìccio.’
„Aber dann hätte sich die Frage ja gar nicht gestellt. Dann wäre es ja gar nicht zu dem Kuss gekommen, oder?”
‘Manchmal entscheiden sich bei uns auch beide für dieselbe Rolle. Dann gibt es allerdings meist auch keine Babys.’
„Bei uns gibt es das auch, aber das wäre nichts für mich. Nein, wirklich!”
‘Dann ist für euch die Rolle von jemanden das entscheidendere Auswahlkriterium, als die Person selbst? Ich meine, lieber jemanden mit der passenden Rolle als eine passende Person?’
„Eure Gedankentricks bringen mich ganz durcheinander. Erst kann ich mir vorstellen, einen Freund von Dennis zu küssen, dann ist er gleichzeitig meine Freundin, und dann will die plötzlich ein Alien-Baby von mir. Das ist ein bisschen viel für einen verregneten Sommertag, findest du nicht? Ich bin fünfzehn!”
‘Zumindest hast du mich wieder Freundin genannt. Das ist schön. Und, du hast es getan, das mit dem Kuss und nicht nur vorgestellt. Und mir hat es gefallen.’
„Mir auch! Das ist ja das Problem.”
Am Nachmittag beschloss ich, dass ich Dennis über die Vorfälle beim Picknick informieren sollte. Natürlich in einer entschärften Fassung. Selbstverständlich ohne den Kuss. Aber das mit den Pasten und dem Sanddorn sollte er schon wissen. Und dass sein Freund Rìccio künftig nicht mehr in Erscheinung treten sollte. Natürlich ohne zu viel von dem Grund zu verraten, der ihm das Geheimnis entlockt hat.
„Sanddorn? Ja, ist ein großer Vitamin-C-Lieferant. Aber was da auf subatomarer Ebenen passiert, wer weiß das schon. Da fehlt ja selbst den Experten auf diesem Planeten das entsprechende Wissen. Was macht dein Hinterteil? Ist der Dorn noch drin? Soll ich mir das einmal ansehen?”
„Untersteh’ dich!”
Eigentlich sollte es erlaubt sein, jüngere Brüder für solche Vorschläge zu hauen. Das Problem ist nur, wenn der jüngere Bruder größer und stärker ist. Also mussten wieder einmal Argumente helfen.
„Was meint Rìccio eigentlich zu der Idee mit dem Sanddorn?”
„Rìccio weiß noch nichts von meiner Entdeckung. Außerdem, da ist noch etwas. Rìccio und Chiòcciola sind die gleiche Person!”
„Dachte ich mir schon.”
„Wie bitte? Du dachtest dir das schon?”
„Ja, beide heißen ‘Schnecke’. Schnecken sind zwittrige Wesen, die erst im Geschlechtsakt die Rollen festlegen. Dazu haben sie so eine Art Speer, mit dem sie die Rollenverteilung ausfechten.”
„Wirklich? So etwas gibt es auch bei uns?”
„Ja, und wer verliert, wird das Mädchen.”
Ich war sprachlos. Dennis hatte sich schlau gemacht und vor mir erkannt, um was es eigentlich ging. Das mit dem Verlierer-Mädchen gefiel mir allerdings überhaupt nicht.
„Ich musste ja kein Picknick vorbereiten, deshalb hatte ich Zeit zu lesen.”
„Und deine Computerspiele?”
Dennis deutete auf den Bildschirm hinter ihm und erklärte stolz.
„Ich muss nicht mit jedem, der mich herausfordert, aktiv spielen. Für die ersten Level habe ich mir ein Script geschrieben, das fast genauso unschlagbar ist wie ich. Und wenn es jemand doch bis ans Ende der vom Script beherrschten Level schafft, dann muss ich mich eben selbst an den PC setzen. Aber so habe ich Zeit zum Lesen und Nachdenken.”
„Du - nachdenken - worüber?”
„Über dich und Rìccio und den Kuss.”
„Du weißt von dem Kuss?”
„Na ja, Rìccio hat mich gefragt, ob das eine gesellschaftlich akzeptierte Option sei, bei einem Picknick? Und dann natürlich, ob du davon schwanger werden könntest.”
„Rìccio hat dich um Erlaubnis gefragt, ob er mich küssen darf? Und das mit der Schwangerschaft ist doch wohl ein Scherz, oder? Wer weiß das nicht heutzutage, dass das nicht geht.”
„Nicht direkt gefragt, nur so allgemein. Und bei denen funktioniert die Reproduktion wohl durch beliebigen Austausch von Zellmaterial.”
Beliebiges Zellmaterial? Mir wurde ganz heiß und kalt. „Und was hast du ihm - ihr- geantwortet?”
„Auch nur so allgemein, dass es Ethnien auf diesem Planeten gibt, da müsste ich ihn, als dein Bruder, hinterher töten.”
Jetzt war mir klar, warum Rìccio so schrecklich bemüht war, eine Mauer zwischen uns aufzubauen. Ich hätte meinen Bruder würgen können, da fuhr er auch schon fort.
„Dass du von dem Kuss schwanger geworden sein könntest, glaube ich nicht. So etwas ist zwischen verschiedenen Spezies eher die Ausnahme. Mit dem Geschlechtswechsel musst du dir auch keine Sorgen machen. Das ist sogar recht verbreitet, das gibt es nicht nur bei Außerirdischen. Erinnerst du dich an Nemo und seinen Vater?”
„Ja, natürlich!”
„Eigentlich wäre Nemos Vater Nemos Mutter geworden, nachdem diese gestorben ist, aber das wollte man den Kindern wohl nicht zumuten.”
„Erzähl mir mehr!”
„Clownfische leben in langfristigen Beziehungen. Wenn das Weibchen stirbt, dann wir das Männchen innerhalb von einer Woche zum Weibchen.”
„Du meinst er verhält sich wie ein Weibchen?”
„Nein, er wird zu einem richtigen fortpflanzungsfähigen Weibchen.”
„Das bedeutet, dass es bei denen nicht von Geburt festgelegt ist, wer die Kinder bekommt?”
„Nein, und noch interessanter ist ja, dass es wechseln kann. Es gibt übrigens noch andere Tiere bei uns, bei denen das Geschlecht nicht genetisch bestimmt ist, sondern beispielsweise durch die Temperatur beim Brüten. Reptilen und Amphibien zum Beispiel. Ab einer bestimmten Temperaturschwelle entstehen Weibchen, sonst Männchen. Uns noch interessanter: Bei Krokodilen und Schildkröten ist es genau umgekehrt mit der Temperatur.”
„Du bist schrecklich gut informiert bei diesem Thema.”
„Ja, denn es hätte ja auch mich treffen können. Denn ehrlich gesagt, ich finde Chiòcciola schon sehr attraktiv!”
Klasse, dieser Kuss entwickelt eine immer größere Dimension. Jetzt habe ich auch noch die potentielle Freundin von meinem jüngeren Bruder geküsst. Das wird ja immer verwirrender! Und mit dem Alien-Baby auch recht bedrohlich!
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Dennis und ich beschlossen, mit unseren Rädern zu einem Hofladen zu fahren, der sich auf Sanddornprodukte spezialisiert hatte. Chiòcciola/Rìccio hatten wir erst gar nicht gefragt. Zum einen, weil wir so mit den Fahrrädern die etwa 15 Kilometer je Strecke schneller zurücklegen konnten, zum anderen wollten wir auch unseren Kopf frei bekommen. Unsere eigenen Gedanken denken, schien uns auf einmal sehr erstrebenswert.
Der Weg führte auf dem ersten Stück in die Richtung zu der Lichtung. Obwohl wir an einigen Stellen nicht den Weg nahmen, den ich zu Fuß gegangen war, war die Strecke selbst auf Mountain-Bikes recht anspruchsvoll.
Als wir an der Lichtung ankamen, drehte sich Dennis zu mir um uns grinste mich unverschämt an. Ich versuchte ihn einzuholen, was mir aber erst gelang, als der Weg besser ausgebaut war und dann in einem langen Gefälle kurvenreich zu dem Dorf führte, zu dem wir aufgebrochen waren.
Der Hofladen war relativ unscheinbar, aber vollgestopft mit allem, was man wohl aus Sanddorn herstellen konnte. Und das war eine ganze Menge. Am Tresen stand ein Körbchen mit Sanddornbonbons, die zum Probieren ausgestellt waren. Ich konnte nicht widerstehen und war wirklich angenehm überrascht. Fruchtig, nicht zu süß und ohne diese künstlichen Zitrusaromen, die sonst bei Bonbons oft zu finden sind. Sie schmeckten wirklich gut.
Allerdings zeigte uns der Preis auch, dass es vielleicht angezeigt sein könnte, vorab einen Kassensturz zu machen. Wir legten also die Reste von unserem Taschengeld zusammen und prüften, was sich innerhalb unseres Budgets realisieren ließe.
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