Dann zuckte ich zusammen. Was war davon in meinem Gedankenflur gelandet. Und überhaupt, wie lange haben wir hier schon so still nebeneinander gesessen.
Das ist doch mega-peinlich! Ich hatte immer noch nicht gelernt, damit umzugehen, dass sich mein Gegenüber meiner Gedanken bedienen konnte. Aber, wenn sowieso alles offen ist, gibt es dann noch Peinlichkeit? Sicher! Denn ich konnte es ja im Gegenzug nicht! Rìccio war mir ein Rätsel. Aber eins, das mir gefiel! Mist, schon wieder!
Rìccio blickte mich an. Keine Worte, keine Gedanken. Ich hielt das nicht mehr aus. Natürlich finde ich es toll, dass Mädchen im 21. Jahrhundert all das machen dürfen, was Jungen machen dürfen. Toll! Aber das heißt doch nicht, dass wir es auch unbedingt machen müssen , oder? Ich meine, habe ich die Hektik mit dem Rouge und so völlig umsonst gehabt? Findet der mich nicht wenigstens ein bisschen attraktiv? So zumindest der Höflichkeit halber? Will ich das überhaupt? Aus Höflichkeit angebaggert werden? Nee, wirklich nicht! Ganz entschieden ‘Nein’!
Aber so ganz ohne Reaktion komme ich mir auch irgendwie hilflos vor! Und dann der Schreck: Schon wieder zu laut gedacht?
Rìccio lässt sich keine Reaktion anmerken.
‘KÜSS.MICH.JETZT’
Ich bemühte mich redlich, ihm meine Gedanken schmackhaft zu machen. Keine Reaktion.
Was soll ich nur machen? Bauchtanz? Oder vielleicht doch die Initiative ergreifen? Komm, Annika, wir sind im 21. Jahrhundert! Rouge und Schmollmund sind so etwas von Sechziger. Ergreif die Initiative! Wieder meine Stimme. Kann er die etwa auch hören? Wir reden schließlich von einer inneren Stimme! Oh Gott, wenn jetzt ein Psychiater anwesend wäre.
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Ich beuge mich vor, lege meinen Arm um seine Schulter, drehe ihn ein wenig in meine Richtung und lege meine Lippen auf seine. Langsam öffnet sich sein Mund.
Und dann fängt alles an, unwirklich zu werden. Es ist so, wie ich es mir vorgestellt habe. Wie ein Kuss wohl schmeckt, wenn man das immer nur im Kino und Fernsehen gesehen hat, aber bisher noch keine Gelegenheit war, es in der Praxis auszuprobieren. Es war riesig! Toll! Und dann: Ich weiß, dass man beim Küssen nicht die Augen öffnet. Mein Wissen ist zwar durchaus eher theoretisch, aber das weiß ich! Ich weiß nicht, warum ich es dennoch getan habe. Und trotzdem habe ich es gemacht. Was ich dann sehe, hat mich völlig umgehauen.
Es flimmert vor meinen Augen. Nein nicht dass sich die Welt dreht oder rosarote Plüschschweinchen den Himmel bevölkern. Nein, Rìccio flackert. Mal sehe ich Rìccio, dann Chiòcciola, dann wieder Rìccio. Panik ergreift mich und dann ist der Kuss leider auch schon zu Ende. Viel zu früh und viel zu abrupt!
Ich reibe meine Augen und neben mir sitzt: Rìccio
‘Es tut mir Leid, das hätte nicht passieren sollen.’
War das jetzt also wirklich passiert, oder träume ich das alles. ‘Hätte nicht passieren sollen’, ist aber auch genau das, was ich als Rückmeldung jetzt brauchte. Und dann sage ich das Intelligenteste, was mir in dieser Situation eben einfällt:
„Schon gut.”
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Mir ist schlecht. War das alles? Der erste Kuss, so sagt man, bleibt Frauen ein Leben lang im Gedächtnis. Das glaube ich seit heute gern! Ich muss mich aber auch immer übernehmen. Der erste Kuss, und dann gleich ein Alien vom anderen Ende der Milchstraße. Und nun muss ich auch noch versuchen, die Situation zu retten, statt getröstet zu werden. Ich sitze auf der Decke und mir fällt nichts richtig Cooles ein, um die Situation zu retten. Rìccio sagt nichts und schickt keine Gedanken rüber. Dann die Idee...
„Sag mal, wo wolltet ihr eigentlich hin, als euer Weltraumwohnmobil plötzlich die Grätsche gemacht hat?”
Pause.
‘Ich musste erst einmal überlegen, was du fragen wolltest. Aber gut, ich werde es dir erzählen.
Wir waren auf einer Urlaubsfahrt. Es ging leider nur an die Spitze eures Arms unserer Galaxie. Von euch aus sind es noch gut 5.000 Lichtjahre. Von dort aus kann man dann direkt auf die Magellanschen Wolken blicken.’
„Was für Wolken?”
‘Das sind zwei Zwerggalaxien in der Nähe von unserer Milchstraße. Wir waren leider noch nicht da, anders als die meisten von unseren Klassenkameraden.’
„Ich bin ja schon geplättet, dass ihr so in unserer Milchstraße herumreist, mit nichts weiter als einem Weltraum-Bio-Haus und irgendeinem Frucht-Smoothie. Und das geht auch außerhalb unserer Milchstraße?”
‘Natürlich! Nur unsere Eltern haben nicht so viel Zeit. Sie haben leider einen Beruf, der ihnen kaum Urlaub gestattet. Da müssen die Ziele eben dichter sein. Anders als unsere Klassenkameraden, die jedes Jahr wegfahren. Aber wenigstens aus der Nähe ansehen wollten wir die Magellanschen Wolken uns schon einmal. Das ist schließlich Thema im nächsten Jahr.’
„Das mit dem viel beschäftigten Vater, dafür habe ich glatt Verständnis. Pa hat auch nie für etwas Zeit.
Du hast doch auch noch etwas von eurer Nahrung mitgebracht. Lass uns die doch noch probieren.”
Eigentlich wollte ich nur diese peinliche Situation hinter mich bringen und mit dem Picknick, zu dem ich so gar keine rechte Lust mehr hatte, irgendwie fortfahren. So richtiges Interesse an dem Inhalt von Rìccios Tuben hatte ich ehrlich gesagt nicht mehr. Aliens schienen mir im Moment gar nicht mehr so attraktiv, wie noch vor wenigen Minuten.
Rìccio öffnete seinen kleinen Stoffbeutel und holte vier Tuben hervor. Drei recht große, eine war bereits fast leer gedrückt und es schien nur noch ein winziger Rest enthalten zu sein. Er schraubte den Verschluss von der ersten Tube ab und drückte eine kurze Wurst auf meinen Löffel.
‘Das essen wir besonders gern zum Frühstück. Es sind alle Aminosäuren und Spurenelemente, die wir zum Leben brauchen, enthalten und weckt die Lebensgeister.’
Blöde Lebensgeister! Der Geschmack, der sich auf meiner Zunge breit machte war breiig und sauer. Und je mehr ich versuchte, das Zeug runterzuschlucken, desto mehr schien es zu schäumen. Irgendwann half nur noch der rettende Griff zur Saftschorle. Im Fernsehen hatte ich bei einer Kochsendung mal einen Satz gehört, der jetzt ungemein hilfreich war.
„Irgendwie interessant und sicher auch sehr nahrhaft.”
‘Ja, das Frühstück ist unsere wichtigste Mahlzeit. Ich liebe dieses säuerliche Prickeln auf der Zunge.’
Was antwortet man da? Ich versuchte interessiert zu klingen. „Was gibt es denn so zum Mittagessen?”
‘Mittagessen ist bei uns meist die Nahrung, die Ballaststoffe bereitstellt. Hier, das ist eine ganz typische Variante unseres Mittagessens, etwas, das wir auch in der Schule häufig bekommen.’
Er drückte mir eine weitere Wurst auf den Löffel. War die etwa noch länger?
Erst war sie recht mild, dann aber entdeckte meine Zunge die kleinen Klümpchen. Sie knirschten, wenn sie zwischen die Zähne kamen. Und sie scheuerten irgendwie im Rachen beim Versuch sie zu schlucken. Also schien auch diese Variante im Mund immer mehr zu werden.
„Sehr ergiebig”, presste ich zwischen den Zähnen hervor, um nicht zu viel von der breiigen Masse beim Versuch zu sprechen auf die Decke zu sprühen. Vielleicht hätte es ja sogar Löcher gegeben.
‘Ja, unser Mittagessen sättigt für viele Stunden.’
Gute Vorlage: „Ja, das glaube ich gern. Ich bin gespannt auf das Abendessen.” Was bin ich doch für ein ausgekochtes Schlitzohr! Nur noch eine Tube und ein kleiner Rest von der vierten!
Wortlos reichte Rìccio mir einen neuen Streifen auf meinem Löffel. - Es war, ganz entschieden anders! Sauer, sehr - sehr sauer mit einer Spur fieser Bitterstoffe. Ich habe immer Leute mit Sodbrennen bedauert, denen beim Aufstoßen der Magensaft in den Mund schwappt. Das wäre jetzt im direkten Vergleich das Dessert gewesen, dieses jedoch war der Hauptgang! Beim besten Willen, das konnte ich nicht schlucken. Alles in mir rebellierte und das so intensiv, dass ich aufsprang und mich in die Büsche schlug.
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