Heute also sollte es endlich mal ein richtiges Picknick werden. Ich hatte jede Aufregung darüber bisher mit einer unbändigen Aktivität im Zaum gehalten. Ma war gleich nach dem Frühstück aufgebrochen und hatte mich mit hinunter ins kleine Einkaufszentrum in der Kleinstadt genommen, zu der unser Dorf verwaltungstechnisch gehörte. Dort hatte ich alles eingepackt was mir an heimischen Früchten und Delikatessen für ein Picknick tauglich erschien. So beladen musste ich wenigstens nur noch den Weg zurück laufen.
Inzwischen türmten sich neben der Dose mit dem Eiersalat, eine weitere mit Kartoffelsalat mit Apfelstückchen und Spreewälder Gurken, ein Obstsalat mit Melonenstücken, Erdbeeren, Äpfeln und Weintrauben, und ein Nudelsalat mit Ananasstücken und Pinienkernen vor mir auf. Das Glas mit der vegetarischen Mayonnaise war damit auch leer.
Ich hatte noch eine Packung mit Haferkeksen im Keller gefunden und ein großes Glas mit Fruchtjoghurt. Zusammen mit einer Flasche Traubensaft und einer Flasche Mineralwasser verstaute ich alles in meinem Rucksack und war fast fertig.
Jetzt fing die Aufregung an, von mir Besitz zu ergreifen. Nachdem ich die letzte Schüssel und das letzte Messer in der Spülmaschine verstaut hatte, fiel mir ein, dass ich mich ja gar nicht zurechtgemacht hatte. Ich sah aus wie ein Haumütterchen mit meiner Schürze. Rasch band ich sie ab, hängte sie mehr schlecht als recht auf den Haken und spurtete nach oben Richtung Bad.
Wie schminkt man sich für ein Picknick? Ich wollte ja auch nicht zu aufgebrezelt wirken. Irgendwie sommerlich frisch. Mein Spiegelbild wirkte gar nicht so. Und dann war da noch dieser fiese Pickel. Also etwas Concealer, Puder, ein helles unauffälliges Rouge und den Lippenstift in ‘Nude’ oder nur Lip-Gloss? Ich entschied mich für lediglich verführerischen Glanz. War das überzeugend? Und wollte ich Rìccio überzeugen? Und wenn ja, wozu überhaupt? Meine Knie wurden zittrig. War das jetzt wirklich Annika aus dem 21. Jahrhundert, die da so erbärmlich vor dem Spiegel stand? ‘Reiß dich zusammen, Annika!’ - Auf meine innere Stimme ist meistens Verlass.
Dann tobte ich die Treppe runter, gerade rechtzeitig, um die Gedankenklingel wahrzunehmen.
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Rìccio stand vor der Tür und hatte einen unscheinbaren kleinen Stoffbeutel in der Hand. Sicherlich die Tuben, dachte ich mir.
‘Ich hoffe, ich bin nicht zu spät?’
„Nein, gerade richtig”, antwortete ich schnell.
Dennis kam gerade die Treppe herunter und sah uns beide mit gesteigertem Interesse an.
„Dein Bruder findet, dass du gut aussiehst”, sprach Rìccio Dennis’ Gedanken aus.
Ich blickte beide abwechseln an.
‘Oh, das war jetzt keine Sache, die ihr laut aussprecht, oder? Tut mir leid.’
Schnell schnappte ich mir meinen Rucksack und nahm den Picknick-Koffer in die Hand.
„Lass uns gehen, ehe noch mehr nichtöffentliche Gedanken ausgesprochen werden.”
So richtig wusste ich eigentlich gar nicht, wohin wir gehen sollten. Ich hatte zwar eine vage Idee. Da war eine Lichtung in den Alpen. Wir hatten den Ort mal auf einer Radtour entdeckt und er war mir spontan sympathisch gewesen. Nur wie weit er wirklich war und ob man ihn zu Fuß wirklich gut erreichen konnte, wusste ich nicht wirklich.
Und der Name „Alpen” sollte nicht zu große Erwartungen wecken. Brandenburg ist nicht nur öde, sondern auch überwiegend flach. Wenn sich da mal ein Hügelchen erhebt, dann wird es gleich vollmundig zu den „Alpen” erhoben. Immerhin musste man beim Fahrradfahren ein paar Gänge zurückschalten. Immerhin!
Wir gingen also Richtung Havel und dann am Strandbad vorbei. Der Weg führte zunächst parallel zur Havel, dann bog er ins Landesinnere hinein, um Wohnwagen Platz zu machen, deren Stellplatz direkt an der Havel war.
Der Weg wurde erst wieder interessanter, als er durch ein kleines Wäldchen führte. Rìccio lauschte den offensichtlich ungewohnten Geräuschen sehr interessiert.
Wir kamen zu einer kleinen Lichtung mit einem tiefer gelegenen See, der von einem kleinen Seitenarm der Havel gespeist wurde, welcher in einem kleinen Wasserfall in den See plätscherte. Nicht wirklich spektakulär, aber doch ganz nett. Rìccio schien es jedenfalls zu gefallen.
Noch aber waren wir nicht am Ziel. Aber wenn mich meine Orientierung nicht völlig im Stich ließ, waren wir zumindest nicht in die falsche Richtung gegangen. Der Weg führte weiter aufwärts, was bei einem Ziel das in den „Alpen” liegt, sicher nicht das Falscheste sein konnte. Allerdings wurde mein Rucksack mit der Zeit immer schwerer. Rìccio nahm mir schweigend den Picknick-Koffer aus der Hand und wir marschierten stumm nebeneinander weiter. Anders als neulich, als ich mit Chiòcciola auf dem Weg zum Strandbad war, war ich heute mit meinen Gedanken allein. Es gab kein gemeinsames Gedankengeflecht und ich wusste auf einmal gar nicht, ob es mir lieber war, meine Gedanken für mich zu behalten oder ob ich diese Erfahrung, wie sie mit Chiòcciola gewesen war, vermisste. Also trotteten wir schweigend weiter über Äste und Wurzeln. Manchmal konnten wir zwischen den Bäumen die Havel sehen.
Irgendwann hatten wir den Kamm erreicht und der Wald um uns lichtete sich. Wir betraten die Lichtung, die mit einer Wiese bewachsen war. Als wir aus dem Wald heraustraten, sahen wir, dass die Wiese leicht abfiel und den Blick auf die etwa 50 bis 100 Meter unter uns fließende Havel freigab.
‘Hier ist es sehr schön!’
Also breitete ich die mitgebrachte Decke aus und setzte mich. Rìccio setzte sich neben mich und blickte auf die Havel. In der Tat, der Blick war so beeindruckend, wie ich ihn in Erinnerung gehabt hatte.
‘Der Weg hat sich gelohnt.’
Es klappte also doch mit dem Gedankenübertragen. Warum war dann der Weg hier hoch so stumm verlaufen? Hatte ich etwas falsch gemacht?
Ich öffnete den Koffer und holte für jeden von uns Teller, Glas und Besteck hervor, das ich auf die Decke vor uns legte. Dann griff ich in meinen Rucksack und zauberte die Dosen hervor. Die Salate hatten den Aufstieg gut überstanden. Aus Saft und Mineralwasser füllte ich die Gläser mit einer Traubensaftschorle, die entfernt nach Rotwein aussah. Es war ähnlich festlich geworden, wie ich es mir gewünscht hatte.
„Darf ich dir etwas von den Salaten auftun? Ich habe Obstsalat und Kartoffelsalat, die sind vegetarisch. Der Eiersalat nur bedingt, je nach Definition. Dafür sind der Nudelsalat und die Kekse wieder vegetarisch. Dann habe ich in meinem Rucksack noch ein ‘MilkyWay’, zum Zeichen unserer galaktischen Verbundenheit.”
‘Ich probiere sie alle. Der Reihe nach. Danke.’
So saßen wir da und mümmelten uns schweigend durch die Salate. Währenddessen konnte ich meine Augen nicht von Rìccio lassen. Besonders seine braunen Augen übten eine magische Anziehung auf mich aus. Dass mich seine braunen Locken aus der Reserve locken konnten, wusste ich ja bereits.
Der Fruchtsalat schien Rìccios Favorit zu sein. Ich hatte kaum ein paar Bissen davon abbekommen. Auch der Nudelsalat schien ihm zu schmecken. Den Kartoffelsalat teilten wir uns recht fair. Vom Eiersalat bekam ich mehr ab. Hier schien sein Appetit eher begrenzt, aber er ließ ihn nicht auf dem Teller übrig und weinte auch nicht. Ich schwankte zwischen einer Mischung aus beruhigt und stolz.
Wir hatten gegessen und getrunken. Das, was ich zubereitet hatte, war nicht zu üppig gewesen, aber, zumindest aus meiner Sicht, doch ausreichend. Vor uns lagen noch die nicht ausgepackten Kekse und der Schokoriegel.
Wie sollte es nun weitergehen. Bisher hatten wir eher schweigend gegessen und ich vermisste die Gedanken-Gespräche, die ich mit Chiòcciola hatte. Dabei konnte ich die Augen nicht von Rìccio lassen. Noch nie hatte mich ein Freund von Dennis auch nur annähernd so fasziniert. Dabei war an ihm nicht wirklich etwas Besonderes. Seine Augen waren schön, und das Gesicht war - mir fehlten die Worte. Schön? Symmetrisch? Interessant? Nett anzusehen? Wie beschreibt man einen Jungen, den man mag. Mädchen sind im Idealfall ‘schön’. Manchmal auch ‘extrem schön’. Und Jungen? Sportlich, stark - OK. Aber im Gesicht? Ist das Gesicht bei einem Jungen auch ‘schön’? Ich meine im Idealfall.
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