1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Das war merkwürdig! Jetzt erst fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit unsere Siedlung mit Chiòcciolas Augen gesehen hatte. Und meine Gedanken waren sozusagen ihr Reiseführer. Irgendwie praktisch, aber auch ein wenig ‘ spooky’ .
Plötzlich standen wir vor einem der um diese Jahreszeit recht häufigen Obststände und mir fielen besonders die Schalen mit kleinen roten Früchten auf.
„Kirschen”, sagte ich, und in dem Moment, in dem ich es sagte war mit klar, dass ich ja bereits wusste, wie die Früchte heißen und ich es für meine neue Freundin gar nicht aussprechen musste. Sie beherrsche ja den Trick mit dem Gedanken-Flur.
Da ich aber gleichzeitig auch wusste, dass sie diese Früchte probieren wollte, legte ich drei Euro in die dafür vorgesehene Schale und wir gingen mit unserem neuen Proviant weiter.
Die Häuser hier waren jetzt älter und verputzt. Dieser Putz war mit den Jahrzehnten graubraun geworden und sah recht unansehnlich aus. Gelegentlich war zwar eins der Häuser inzwischen renoviert worden, aber die meisten wirkten auf uns düster und unbehaglich.
Dann kamen wir auf die Havel zu und wir mussten nur noch die Uferstraße langgehen, bis wir vor dem Einlass des Strandbades standen.
Es war wenig los. Die meisten Schüler, die Ferien hatten, badeten wohl gerade nicht in der Havel, sondern im Mittelmeer. Mir fiel auf, dass ich zusammen mit Chiòcciola längst nicht so wütend auf meine Situation war, wie ich es noch vor ein paar Tagen gewesen wäre. Ich hätte ja auch allein an die Havel gehen können, oder? Mit Naike hätte es vielleicht auch eine Lösung gegeben. Schließlich kann ja auch Dennis mal auf sie aufpassen.
Mir gefiel jedenfalls die Tatsache, dass wir das Strandbad fast für uns allein hatten. Sommer, Sonne, und mit der besten Freundin auf dem Rasen liegen und Kirschen essen! So muss Sommer sein.
‘Sind wir beste Freundinnen? Das gefällt mir!’
Ich erschrak mich, als die Gedanken wieder so abgegrenzt spürbar wurden. Vorhin, das war so nebulös gewesen, gar nicht richtig erkennbar, wer welchen Gedanken angefangen hatte und wer ihn weiterspann. Jetzt war es eine ‘richtige’ Unterhaltung. Die Gedanken waren säuberlich getrennt und ich wüsste was sie dachte, aber nicht recht, was ich antworten sollte.
„Na. ja - ich denke wir verstehen uns schon recht gut und sind gedanklich auf einer Wellenlänge. Denkst du nicht?”
‘Wir kommen aus verschiedenen Sonnensystemen und uns trennen 130 eurer Jahre.’
Ich hätte mich fast verschluckt. „Du bist 145 Jahre alt?”, fragte ich schließlich.
‘Ja. Zumindest fast. Die Fahrt in die Ferien habe ich zum Geburtstag geschenkt bekommen. Und weil ich ein recht gutes Zeugnis hatte. Nur das mit den Sternen, meinte Pa, muss besser werden. Dabei ist das ein langweiliges Fach!’
„Zeugnis? Du gehst noch zur Schule? Mit 145 Jahren?” Ich schaute sie fassungslos an. Fast hätte ich geschrien ‘Ja hört das denn bei euch nie auf? - Schule mit 145 Jahren?
Irgendwie wirkte sie jetzt selbst erschrocken und ein wenig eingeschüchtert.
„Wie lange geht ihr denn zur Schule?”
‘Solange es nötig ist. Meist, bis wir 180 Jahre alt sind. Aber oft dauert unsere Ausbildung auch bis 300 Jahre, wenn wir sehr klug sind.’
„300 Jahre, nur für die Ausbildung? Wie alt werdet ihr denn”
‘Das hängt davon ab, wie wir uns gesund erhalten. Manche schaffen 1000 Jahre und mehr. Manchmal endet ein Leben aber auch schon mit 700 Jahren.
Was sind denn Ölgötzen?’
In der Tat war mit gerade aufgefallen, dass wir, seit wir durch die Kasse gegangen waren, wie die Ölgötzen mitten auf dem Rasen standen und uns schweigend ansahen. Und ich wusste beim besten Willen nicht, wie lange schon. Glücklicherweise war das Strandbad trotz der Sommerferien nicht stark besucht.
Ich tat also so, als ob nichts geschehen wäre, kramte in meiner Strand- und Badetasche die Decke hervor und breitete sie auf dem Rasen aus. Dabei versuchte ich möglichst so zu tun, als ob das alles völlig normal und mir nicht im Geringsten peinlich wäre.
Denn jetzt kam ja noch ein Moment, an dem ich tunlichst keine große Öffentlichkeit haben wollte. Sich möglichst elegant aus der engen Jeans zu pellen und das T-Shirt so auszuziehen, dass man es mit elegantem Schwung sauber zusammengelegt neben sich platzieren konnte. Das klappte gut, wenn man allein war. Wenn aber die Blicke der anderen auf einem ruhten, dann waren solche alltäglichen Dinge plötzlich gar nicht mehr so elegant zu bewerkstelligen. Entweder verrutsche die Bikinihose dabei, oder das Oberteil legte etwas frei, was nicht alle sehen sollten. Zumindest nicht in einem Ort, wo einen alle kennen und man die Kinder jeden Morgen an der Bushaltestelle trifft. Am Strand, wo man die Leute später nie wieder sieht, ist das was Anderes. Da kann man leichter cool sein.
Glücklicher Weise hatte heute ich meinen neuen Badeanzug - da kann nichts verrutschen - schon zuhause angezogen, den, den wir nicht am Mittelmeer einweihen konnten. Und ebenfalls glücklicher Weise war mir vorher noch eingefallen den Plastikstreifen vorher zu entfernen.
Als ich mich endlich hinlegte, war Chiòcciola bereits umgezogen. Ihr Wäschestapel sah ordentlicher aus als meiner. Und ich musste zugeben, ihr Badeanzug passte perfekt. Keine Falte war zu sehen. Es sah aus wie eine perfekte zweite Haut. Die Arm- und Beinabschlüsse lagen perfekt auf, ohne Druckstellen zu produzieren. Es sah aus, wie auf einem Katalogfoto. Dabei hatte er keine besondere Farbe oder ein raffiniertes Muster. Er war eher naturfarben und genau im richtigen Maß dunkler als ihre Haut. Das Muster war so unauffällig, dass es wirklich atemberaubend war. Es wirkte wie bei Schlangen oder Reptilien. Wie schön doch Schlichtheit sein konnte!
‘Du magst meinen Badeanzug?’
Diese direkten Gedanken im Flur irritierten mich doch immer noch. Hatte ich sie wieder zu auffällig gemustert?
‘Wollten wir nicht die Oberfläche befeuchten?’
Chiòcciola stand auf und steuerte auf die Havel zu. Eigentlich wäre jetzt mein Ritual gewesen, mich einzucremen, dann etwas auf der Decke auszustrecken und zu warten, bis alles eingezogen ist. Dabei in einem mitgebrachten Magazin zu blättern...
Ich stand also auf und folgte ihr.
Das Wasser war sogar recht angenehm. Die Temperatur bot genau die Menge an Kühle, die zu einem solchen Sommertag passte. Der Himmel war wolkenlos und die Sonne brannte. Und ich trottete Chiòcciola über den Rasen hinterher in Richtung Havel.
‘Euer Wasser ist angenehm. Es tut der Oberfläche gut. Da sind Mineralien und Spurenelemente vorhanden. Das ist ideal.’
Sie klang schon wie Ma, die mir immer mit ihrer Kieselsäure hinterherlief. Spurenelemente?! Nun, auch eine Beschreibung für brackiges Wasser, das eben nicht angenehm blaues Mittelmeer ist. Aber es schien ihr zu gefallen. Und das Wetter passte ja auch.
‘Du meinst, es gibt wo anders besseres Wasser, aber es ist zu weit weg und du kommst nicht dorthin, wärest aber lieber dort?’
Ich hasse es, wenn man so in meinem Gedankenflur wildert. Aber es war angenehm zuzusehen, wie sie in schier kindlicher Freude im nahen Uferbereich planschte. Ich schwamm ein wenig hinaus in Richtung Flussmitte und drehte mich um, um zu sehen, ob sie mir folgte. Sie war verschwunden.
Wir waren nur wenige Meter vom Ufer entfernt und hatten kaum eine Stelle erreicht, an der ich nicht mehr stehen konnte. Sie konnte doch hoffentlich schwimmen? Ich machte mir Sorgen, weil ich sie nicht vorher gefragt hatte. Dennis war Rettungsschwimmer, der hätte jetzt gewusst, was zu tun wäre.
Ich hielt den Kopf unter Wasser und zwang mich, die Augen zu öffnen. Aber ich konnte sie nicht sehen. Also schwamm ich zurück. Dann fasste mich jemand an der Schulter und ich erschrak so, dass ich eine gute Ladung Havelwasser wieder ausspucken musste.
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