1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Custos tischt Hirse, Löwenzahn, Weidenrindenstückchen, einen Champignon und sogar ein paar Zwetschgen auf. Es sieht für mich sehr bunt aus, ich habe bis jetzt nur bei meiner Mutter getrunken. Ob es mir schmecken wird, jedenfalls bewundere ich mit großen Augen die Auswahl.
Auch Bene und Cito staunen. „Wo kommt das alles her?“ Fragt er.
„Das hat Anorex für mich gesammelt.“ Sagt Custos.
„Anorex? Der aus der Geschichte?“
„Ja, Bene, Anorex aus der Geschichte ist mein Helfer. Er kam vor ungefähr eintausendfünfhundert Tagen hier vorbei und ist geblieben. Er findet immer das beste Essen und außerdem ist er mein Freund. Ohne ihn wäre es schrecklich einsam gewesen, seit keine Mäuse mehr vorbeikommen.“
Das ist eine interessante Neuigkeit, ich habe mir immer vorgestellt, Anorex hat vor ewigen Zeiten gelebt, so kam es jedenfalls in der Geschichte rüber. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass es tatsächlich schon sehr lange her ist.
„Wo ist er jetzt?“ Frage ich.
„Er macht das, was er am liebsten macht, er sammelt Nahrung.“ Er lacht. „Für eine Maus, ist er ziemlich aus der Art geschlagen.“
„Na, Custos, lästerst Du etwa über mich?“ Eine schlanke, fast zierliche Maus tritt durch einen Tunnel in unsere Runde. „Hallo, ich bin Anorex, mit wem habe ich die Ehre?“
Wir stellen uns vor und erzählen den beiden beim Essen alles, was passiert ist. Von den Träumen, der Ratsversammlung und unserem Versuch etwas zu unternehmen. Custos erzählt von seinem Leben als Hüter der Quelle und seiner Fähigkeit, den Mäusen in die Seele zu schauen. Ich nehme an, das hat er vorhin bei Tara gemacht, deshalb hat er sie so intensiv angeblickt. Und bei mir, ich habe nichts gespürt, und doch wusste er über mich Bescheid. Custos wurde vor sehr langer Zeit erwählt, der Hüter der Quelle zu sein. Auch Tara hat den Seelenblick, die Gabe anderen in ihr tiefstes Inneres zu sehen, deshalb verstehen sich die Beiden auch auf Anhieb so gut. Ihre gemeinsame Gabe scheint sie zu verbinden.
Ich tauche aus meinen Gedanken gerade auf, als Anorex mit seiner Geschichte beginnt.
„Als ich siebzehn Tage alt war, stellte eine Priesterin fest, dass ich kaum zugenommen hatte seit meiner Geburt. Ihr wisst ja, MUS hat sie damit beauftragt, darüber zu wachen, dass die Kinder wachsen und gedeihen. Sie machte sich ernsthafte Sorgen und nahm mich immer wieder mit, wenn sie sammeln ging. Das bereitete mir große Freude. Sie ermunterte mich richtiggehend zum Essen, aber ich nahm nicht zu. Auch gewachsen bin ich nicht wirklich, seht mich an, ich bin immer noch klein und schmächtig.“ Wir lachen.
„Aber ich habe im Sammeln meine Berufung gefunden. Das Sammeln für Männer war aber längst schon verpönt, sie lachten mich immer aus und quälten mich mit ihrem Spott. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und bin weggelaufen. Da war ich Dreiunddreißig. Nach einer langen Reise kam ich hier an. Damals war an der Quelle noch reger Verkehr. Ich folgte den Gläubigen zur Quelle des Lebens, betete und trank wie alle anderen. Bevor ich wieder gehen wollte, fragte mich Custos, ob ich nicht sein Gehilfe werden wolle. Na ja, wahrscheinlich hatte er Mitleid mit einem heimatlosen jungen Mann.“ Er zwinkert Custos zu und der grinst zurück.
„Aber, wir sind im Laufe der Tage gute Freunde geworden und Custos freut sich über alles, was ich sammle.“
Der nickt bestätigend. „Das stimmt, ich habe nie so gut und abwechslungsreich gegessen, bevor Anorex hier eintraf.“ Dann nimmt er sich gleich noch etwas.
Obwohl das meine erste feste Nahrung ist, bekommt sie mir ausgezeichnet, es schmeckt alles lecker. Custos hat leider keine Erklärung dafür, was aus den Gläubigen geworden ist. Mit der Zeit seien immer weniger gekommen, bis dann irgendwann gar keiner mehr kam. Natürlich behüte er die Quelle weiter, jedenfalls solange er am Leben bleiben würde. Das ist seine Aufgabe, etwas anderes kannte er nicht mehr.
Dann erzählen sie von dem Land hinter der Mauer. „Es ist kein sehr großes Land, aber fruchtbar. Dort wächst alles, was man braucht, um zu überleben und noch jede Menge andere schmackhafte Nahrung, wie die Pilze,...“ Er hält inne und springt auf. „Meine Pilze, die hätte ich beinahe vergessen. Entschuldigt mich kurz, ich habe drei schöne Röhrlinge mitgebracht. Die will ich schnell versorgen.“ Er geht schnell hinaus und ist für eine Weile verschwunden.
Unterdessen, erklärt uns Custos, wie das Land aufgeteilt ist.
„Beginnen wir im Osten, da haben die Menschen einen Nutzgarten angelegt. Anorex bringt immer wieder tolle Sachen von dort mit. Dort gibt es einen alten Zwetschgenbaum, der aber nicht in jedem Sommer so herrliche Früchte hervorbringt, wie die, die wir gerade gegessen haben. Dann kommt der große Nussbaum, ein wunderschön anzusehender Baum, der immer reichlich trägt. Seine Nüsse sind groß und wohlschmeckend. Es gibt dort Flieder, aber warum weiß ich nicht, die Menschen sind absonderliche Wesen, die manchmal Pflanzen nur zu ihrem Vergnügen haben, völlig ohne Nutzen. Der Flieder gehört dazu, meiner Meinung nach. Er verwurzelt das ganze Erdreich, es macht keinen Spaß, dort zu graben. Um seinen Nutzgarten hat der Mensch einen Zaun errichtet, aber der behindert uns nicht, er ist sehr grobmaschig. Wahrscheinlich soll er größere Tiere abhalten, darin herumzutrampeln. Wenn wir weiter der Mauer entlang in Richtung Westen gehen, kommen wir am Haselnussstrauch vorbei. Da wohnt ein Schwarm Spatzen, sie machen manchmal ein grässliches Geschrei, sind aber friedlicher Natur. Ein Stück weiter gab es einmal einen Kirschbaum, der sehr gute Kirschen hervorbrachte, aber ein großer Sturm hat ihn umgeworfen, er war vielleicht doch nicht mehr richtig gesund. Ein Stück weiter kommt noch eine Weide, und dann der See.“
„Der See?“ Hake ich nach.
„Der See und das Haus, ein alter Baumstumpf, sind wunderschön,“ höre ich Anorex sagen. „Dort haben wahrscheinlich früher schon einmal Mäuse gelebt.“ Anorex sei vor ungefähr fünfhundert Tagen das letzte Mal beim Haus am See gewesen.
„Aber da war alles verlassen, ich habe keine Ahnung, wo die Mäuse abgeblieben sind.“
„Das Haus am See?“ Das lässt mich hellhörig werden.
„Ja, da gibt es viel fruchtbares Land und einen großen See. Soll sehr schön sein. Es wachsen viele Pflanzen dort, auch der Klee, den ich am liebsten esse. Anorex hat mir davon erzählt, leider habe ich es noch nicht selbst gesehen.“
„Es war sehr schön Custos, ich weiß nicht, wie es inzwischen aussieht. Nachdem der Klee eingegangen ist, bin ich nicht mehr dort gewesen. Fast alles, was es zu sammeln gibt, wächst in dem Bereich bis zum großen Haselnussstrauch. Und selbst für unsere Weidenrinde, muss ich nicht bis ganz an den See.“
Das hört sich vielversprechend an, ich nehme mir gleich vor, auf jeden Fall bis zu diesem Haus am See zu wandern. Etwas klingt in mir nach, kommt mir sofort vertraut vor, so, als müsse ich unbedingt dort hin. Ich kenne den Grund dafür nicht, aber ich werde es herausfinden.
Wir haben uns lange unterhalten, die Natur verlangt ihr Recht, ich bin auf einmal schrecklich müde. Meinen Reisegefährten scheint es genau so zu ergehen, einer nach dem Anderen gähnt schläfrig.
Custos bemerkt es. „Oh, Ihr seid müde, aber es ist so lange her, dass wir so viele Gäste hatten. Verzeiht, ich habe euch wach gehalten.“ Dann wünscht er uns einen erholsamen Schlaf und legt sich selbst ebenfalls zur Ruhe. Er verspricht, uns morgen den Tunnel, der auf die andere Seite führt, zu zeigen.
Aufregung erfasst mich, obwohl ich eigentlich müde bin, kann ich nicht sofort einschlafen. Das Haus am See geistert durch meinen Kopf, ich versuche, es mir vorzustellen. Für mich hört sich das wie eine neue Heimat an. Aber ich bekomme kein klares Bild davon und schlafe darüber unbemerkt ein.
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