»Gab es in letzter Zeit oft Streit?«, fragte er nach.»Naja ...«»Sei ruhig ehrlich, Claudia. Natürlich gab es den. Denise wollte unbedingt nach Griechenland und wir haben ihr klargemacht, dass sie sich auf die Uni konzentrieren soll. Sie war im Sommer zwei Wochen mit Aléxandros auf Kreta. Nachdem sie zurückgekommen ist, hat sie nur geheult und wollte zurück zu ihm.«»Wieso Kreta?«, wollte Niko wissen, der bei der Erwähnung der Insel zusammenzucke.»Seine Eltern leben dort«, erklärte Martin . Bitte nicht Kreta , durchfuhr es Niko.»Erst vor Kurzem hat sie uns an den Kopf geworfen, dass wir ihr Leben zerstören und sie es uns nie verzeihen wird ...«»Seit wann genau ist sie weg?«, bohrte Niko weiter nach.»Sie hat vor einer Woche einen mehrtägigen Ausflug mit ihrer Freundin geplant. Erst gestern haben wir zufällig erfahren, dass dies gelogen war.«Niko öffnete einen Ordner mit Bildern und sah sich die Miniaturansichten durch. Martin hörte sein Telefon und ließ seinen Freund mit seiner Frau alleine im Zimmer.»Zuerst muss ich wissen, wohin sie geflüchtet ist«, überlegte Niko.Er ging davon aus, dass die Flucht wohlüberlegt war. Denise musste obendrein davon ausgehen, dass ihre Eltern sie suchen würden.»Nach Athen, wohin sonst? Zu diesem Alex«, gab sich Claudia überzeugt.Niko öffnete ein Bild. Darauf war Denise zu sehen, wie sie in Unterwäsche auf ihrem Bett saß. Mit einem verführerischen Lächeln und großen Augen blickte sie in die Kamera. Niko wunderte sich kurz über ihre Frisur, er kannte sie nur mit langen, braunen Haaren, doch nun waren sie zu einem Pagenkopf zurechtgeschnitten.»Genau solche Fotos hat sie ihm geschickt«, meinte Claudia verärgert.»Das Bild hat eine sehr hohe Auflösung.«»Sie hat vor ihrem Urlaub auf Kreta eine neue Kamera von uns bekommen«, erklärte Claudia.Da Niko längere Zeit auf das Bild blickte, sah sie ihn skeptisch an.»Hilft es Dir, wenn Du sie so anstarrst?«»Sie ist mir egal, aber das hier ...«, er vergrößert einen Ausschnitt, »... könnte interessant sein.«Unter ihrem Oberschenkel lugte ein Reiseführer hervor. In der Vergrößerung war zu erkennen, dass es sich um ein Buch über Kreta handelte.»Das Bild ist vor zwei Wochen entstanden.«»Kreta? Dort war sie doch erst? Oder glaubst Du, sie ist wieder auf die Insel geflogen?«, Claudias Stimmung wechselte zwischen Verärgerung und Angst um ihre Tochter.Niko reichte ihr die leere Bierflasche und bat um ein weiteres. Er wollte ihr nicht ins Gesicht sagen, dass es leichter wäre, wenn sie ihm nicht andauernd über die Schulter sehen würde.Als er alleine war, öffnete er den Ordner mit den Bildern von Denises Urlaub im Kreta und ging jede Aufnahme durch. Dabei kam ihm wieder in den Sinn, dass er gerade diese Insel immer meiden wollte und jetzt im Begriff war, genau dorthin zu fliegen.Die Fotos zeigten sie und Aléxandros in verschiedensten Situationen. Zusammen auf dem Zimmer, bei einer Shoppingtour durch einen Straßenmarkt, Bilder von einem Bootsausflug, eng umschlungen am Strand vor einer Bar. Dass nicht alle Fotos jugendfrei waren, interessierte ihn nicht. Bei einer Aufnahme von Denise beim Sonnenbaden an Deck eines Bootes blieb er hängen.»Sie hätte wenigsten ein Oberteil anziehen können«, meinte Claudia empört, die mit einer neuen Bierflasche hereinkam.»Ich weiß, wie eine Frau aussieht«, kommentierte Niko ihren strafenden Blick, »Gib mir noch zehn, zwanzig Minuten alleine, dann komme ich zu Euch hinaus.«Obwohl sie offensichtlich wenig begeistert von seiner Aufforderung war, ließ sie ihn alleine im Zimmer.Eine halbe Stunde später erschien Niko bei dem Paar auf der Terrasse. »Weißt Du, wo sie ist?«»Ja.«»Du bist Dir ganz sicher?«, hakte Claudia nach.Niko legte einige ausgedruckte Fotos auf den Tisch.»Es war eine gute Idee, ihr einen neuen Fotoapparat zu besorgen. Eine der vielen Funktionen der Kamera ist die Möglichkeit, Fotos via WLAN gleich an einen Computer zu schicken. Oder, wie es hier der Fall war, auf ihren Dropbox-Account . Sie hat in den letzten Tagen einige Bilder gemacht.«Insgesamt vier Bilder hatte er ausgedruckt und ihnen vorgelegt.Auf dem ersten standen Denise und Aléxandros auf eine Straße, links davon eine Strandbar. An der Steinmauer war der Name der Bar deutlich zu lesen: »Porto Paradiso«Rechts war ein Sandstrand mit einigen Liegen zu sehen. Hinter ihnen führte eine Straße den Hügel hinauf, vorbei an Souvenirläden und Lokalen. Auf dem zweiten stand Denise auf einem hohen Felsen, hinter ihr war ein Strandabschnitt mit Lokalen zu sehen. Es war derselbe Strandabschnitt, an dem auch das vorige Bild entstanden war, nun war mehr von der Ortschaft zu erkennen. Beim nächsten Bild verdrehte Claudia erneut die Augen. Denise lag hüllenlos auf einer Sonnenliege und ließ die Sonne auf ihren Rücken scheinen.»Schon wieder«, stöhnte Claudia auf.»Vergiss den Hintern. Sie ist nackt und vermutlich auf einer privaten Terrasse. Im Hintergrund sieht man einen Berg, davor eine Küstenstraße«, erklärte Niko . Er legte eine ausgedruckte Karte von Kreta dazu.»Wenn man die Bilder als Anhaltspunkt nimmt, kommt man zum Ort Bali. Derselbe wie im Sommer.«»Also wird sie jetzt in Kreta sein?«»Auf jeden Fall vor zwei Tagen. Deshalb werde ich an diesem Ort anfangen. Wenn sie nicht mehr dort ist, wird man mir sicherlich weiterhelfen.«»Wer sind die anderen zwei Personen?«, fragte Martin und deutete auf das letzte Bild.Denise und Aléxandros saßen zusammen mit einem älteren Herrn und einer Jugendlichen beim Abendessen an einem reichlich gedeckten Tisch im Freien. Die junge Frau fiel dabei besonders auf. Ihre Haare waren blond mit knallroten Strähnen. Auf der Lippe trug sie ein silbernes Piercing. Auch in der Rinne zwischen Nase und Oberlippe blitzte ein kleiner Stein.»Könnten Vater und Tochter sein. Jedenfalls kennen sie Denise. Ich werde sie suchen und fragen, wo Eure Ausreißerin ist.«»Und wenn keiner etwas verraten will?«, fragte Claudia.»Ich werde erfahren, wo sie ist«, war sich Niko sicher.Martin deutete auf sein Smartphone.»Der nächste Flug geht schon morgen früh. Ist das ein Problem für Dich?«»Nicht für mich, aber ich habe einen Job und einen Bewährungshelfer.«»Darum kümmere ich mich«, versicherte ihm Martin, »Natürlich auch um die Kosten für die Unterkunft und den Mietwagen.«»Das klingt fast wie Urlaub. Ich hatte schon sehr lange keinen Urlaub mehr.«»Wenn Du Dich ein, zwei Tage erholst, soll es kein Problem sein ...«»Hauptsache, Du bringst Denise so schnell wie möglich wieder zurück«, warf Claudia ein.»Sie ist nicht in Gefahr. Ich werde sie ausfindig machen, in den nächsten Flieger setzen und zurückkommen. Das wird keine große Sache werden.«»Das glaube ich auch. Es wird ein Spaziergang für Dich, inklusive etwas Urlaub«, meinte Martin zuversichtlich. Niko besaß nicht viel, weshalb das Einpacken sehr schnell erledigt war. In einer Schublade hatte er seine Messersammlung untergebracht. Ein Schweizer Taschenmesser mit unzähligen Funktionen, einigen Wurfmessern, Klappmessern und eine 30cm lange Machete befanden sich darin. Ohne nachzudenken, packte Niko seinen Umhängerucksack. Nur als Glücksbringer, sagte er zu sich, als ein weiteres Klappmesser in die Tasche wanderte. Als würde ich diese Dinge wirklich brauchen. Trotzdem landeten neben seinem Taschenmesser und einem Wurfmesser noch eine Box mit Survivalutensilien und ein Dietrich-Set in seinem Gepäck. An Schlafen war nicht zu denken. Immer wieder kreisten seine Gedanken um seine Mutter, Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit kamen hoch.»Warum gerade Kreta?«, fragte er sich. Martin hatte ihm nahegelegt, auch ein paar Tage Urlaub zu machen, aber daran wollte er nicht denken. Kreta war seit dem Tod seiner Mutter zu einem Ort geworden, den er niemals besuchen wollte.» Das Schicksal mischt die Karten, aber wir spielen «, kam ihm die Stimme seines Bewährungshelfers in den Sinn. Was soll´s. Hinunterfliegen, die kleine Ausreißerin finden und mit ihr retour, das kann nicht so schwer werden , war er sich sicher.
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