Hin und wieder wuchtete er das Bett durch den Raum, obwohl sie manchmal das Gefühl hatte, es bewegte sich von allein. Zwischendrin hockte sich der Patient auf den Boden, um zu urinieren oder lag auf dem Bett und krampfte. Seine Stimme wechselte in verschiedene, ja fast dämonenhafte Tonlagen und verursachte mehrere unangenehme Schauer, die ihr über den Rücken jagten.
Kurz bevor das Video endete, wurde die Aufzeichnung erneut gestört. Danach schwebte der Mann schluchzend und verwirrt stammelnd in der Luft. Was für ein kranker Fake, dachte sie verärgert. Wenn diese Bilder echt wären, müsste man das Hospital auf der Stelle schließen.
Wütend tippte sie eine gepfefferte Antwort, schickte sie ab und löschte die Mail. Um auf andere Gedanken zu kommen, surfte sie noch eine Weile im Internet und überlegte tatsächlich, sich in einem Portal für Singles anzumelden. Aber der Gedanke, sich mit fremden Männern zu treffen, schreckte letztlich sie ab.
Sie dachte an unzählige Gespräche, bei denen man auf keinen gemeinsamen Nenner kam und die sich quälend in die Länge zogen. Vielleicht sollte sie doch auf der Grillparty ihrer Eltern aufkreuzen. Immerhin waren dort auch einige ihrer Kollegen anwesend und nicht nur die übriggebliebenen Junggesellen.
Sie erhob sich und schritt zur Tür. Ein leises Pling machte sie auf eine weitere Mail aufmerksam. Bestimmt wieder Werbung, dachte sie, aber die Neugier siegte. Zwei Klicks und die Seite öffnete sich. Oha, wieder Post aus Russland. Diesmal waren zwei weitere Videos angehängt.
Sollte sie sich das antun oder besser die Terrasse aufsuchen? Doch wissbegierig, wie sie nun einmal war, las sie die Zeilen und sah sich auch die Aufzeichnungen an. Verschiedene Patienten, aber ähnliche Inhalte. Kreischen, Toben, Krampfen, Schweben und Betten, die wie von Geisterhand bewegt, laut über den Boden polterten.
Magere Gestalten, unter unwürdigsten Bedingungen gehalten, versuchten diesem Grauen zu entkommen. Verzweifelt trommelten sie mit ihren Fäusten an Türen und Wände. In Einzelhaft vegetierten sie dahin und niemand kümmerte sich um sie.
Hin und hergerissen, versuchte sie die Videos zu analysieren und bezweifelte deren Echtheit. Der Text allerdings war eindringlich. Sie wurde um Hilfe gebeten, das stand außer Frage. Wollte man auf diese Weise um Hilfe und um Spendengelder bitten?
Eine zweite Meinung wäre mit Sicherheit nicht schlecht, denn bis jetzt hatte sie noch nie einen Insassen schweben sehen. Auch ihr Gewissen meldete sich zu Wort, diesen hilflosen Patienten musste geholfen werden. Vielleicht konnte sie auf der Grillparty den einen oder anderen Gönner aufspüren.
Das Videomaterial zog sie auf ihr Handy und speicherte es. David, ihren besten Freund, konnte sie vorab um Sichtung des Materials bitten, bevor sie sich zum Gespött aller machte.
Dann fischte sie ein paar Papiere aus dem Regal und verzog sich auf die Terrasse, um die nächste Vorlesung an der Uni vorzubereiten. Wohlig räkelte sie sich auf der Liege, setzte die Sonnenbrille auf und blätterte in den Unterlagen. Die Sonne und ein leichter Wind streichelten über ihre blasse Haut und schläfrig legte sie die Blätter zur Seite. Es dauerte keine fünf Minuten und sie döste ein.
Ein heftiger Windstoß wirbelte ihre Unterlagen durch die Luft und erschrocken riss sie die Augen auf. Mist, sie hatte tatsächlich zwei Stunden am Stück geschlafen.
Hastig sprang sie auf, sammelte die losen Blätter wieder ein und schlüpfte ins Haus. Den Himmel bedeckten inzwischen dicke Regenwolken und die drückende Luft kündigte ein Gewitter an. Hoffentlich hielt das Wetter bis zum Ende der Grillparty durch. Obwohl, wenn sich der Regen mittendrin entlud, konnte sie schon eher nach Hause.
Für ein entspannendes Wannenbad war es bereits zu spät, also hüpfte sie nur kurz unter die Dusche. Im Schlafzimmer legte sie eine helle Leinenhose und eine leichte Bluse auf das Bett. Dann föhnte sie ihr widerspenstiges Haar, bis es in weichen Wellen über ihre Schultern fiel und legte ein dezentes Make-up auf. Nach dem Umkleiden warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel. Passt.
Sie schnappte sich ihre Handtasche, griff nach dem Schlüsselbund und machte sich zu Fuß auf den Weg. Ihre Eltern wohnten nicht weit von ihr entfernt und die Parkplatzsuche würde sich schwierig gestalten, bei all den protzigen Schlitten vor der elterlichen Jungendstilvilla.
Der Wind hatte aufgefrischt und wirbelte die sorgsam frisierten Haare durcheinander. Ein strenger Blick ihrer Mutter war ihr gewiss. Obwohl es ein lockerer Grillabend werden sollte, bestand ihre Mutter immer auf einem entsprechenden Dresscode ihrer Gäste. Für Katharinas Geschmack lief alles viel zu steif und zu bieder ab, aber seine Eltern konnte man sich nun einmal nicht aussuchen.
Ihr Vater war ein angesehener Chirurg, die Mutter Zahnärztin und Geld stand in einem äußerst gesunden Maß zur Verfügung. Nur diese unterkühlte Distanz, die zwischen ihnen herrschte, machte es bisweilen schwer im zwischenmenschlichen Bereich. Schon mehr als einmal hatte sie darüber nachgedacht, ob das vielleicht der Grund dafür war, warum sie sich einem Mann gegenüber so selten öffnen konnte.
Als kleines Mädchen hatte Katharina von einer Mutter geträumt, die am Herd stand und extra für sie Spagetti kochte, wenn sie aus der Schule nach Hause kam. Die das blutende Knie verarztete, auf Hausfrauenart und mit einem Küsschen natürlich, und ihr dabei zärtlich über die Locken strich.
Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Der Vater arbeitete im Schichtdienst und ihre Mutter kehrte am Abend abgespannt aus der eigenen Praxis zurück. Hin und wieder gab es zwar eine Gutenachtgeschichte, aber die hatte Seltenheitswert. Nur die Urlaube wurden gemeinsam verbracht, wobei sie deutlich spürte, dass ihre Eltern in dieser Zeit hauptsächlich die eigene Ruhe für sich beanspruchten.
Neidisch hatte sie am Strand zu den anderen Familien geschielt und beobachtet, wie ausgelassen die Väter mit ihren Kindern Ball spielten oder Sandburgen bauten. Und beim Neid war es bis heute geblieben. Wann immer ihr eine schwangere Frau begegnete, versetzte es ihr einen tiefen Stich im Herzen und die Sehnsucht nach einer intakten Familie reifte in Sekundenschnelle.
Manchmal hatte sie auch über eine künstliche Befruchtung nachgedacht oder Adoption, aber letztlich verwarf sie diesen Gedanken wieder. Ihre Eltern hätten so eine Entscheidung wahrscheinlich niemals akzeptiert.
Und wieder spürte sie das innere Aufbegehren, die Fesseln des Alltags abzustreifen und zu fliehen. Weg von hier, einfach nur weg.
Nach einigen Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht und drückte auf die Klingel. Ein Summen ertönte und das schmiedeeiserne Tor öffnete sich.
„Kathi, du bist aber spät dran!“
Ihre Mutter, Evelin, eilte ihr entgegen, küsste sie flüchtig rechts und links auf die Wange und musterte ihr Outfit. „Hast du wirklich nichts Besseres auftreiben können? Die Bluse macht dich älter, als du tatsächlich bist, wir haben schließlich einige Junggesellen an Bord. Und warum versteckst du deine schlanken Beine hinter so viel Stoff? Wenn du dir einen Mann angeln möchtest, solltest du schon etwas aufreizender wirken. Köpfchen und Stil, so lautet die Devise.“
„Mutter, jetzt ist aber gut. Ich fühle mich ausgesprochen wohl, in der Kleidung. Wie geht es euch?“
Ein erneuter, missbilligender Blick verweilte auf Katharinas Haarpracht. „Liebes, wenn du kein Geld für einen Frisörbesuch aufbringen kannst, dann ich leihe dir gern etwas. Du siehst heut alles andere als bezaubernd aus.“
„Danke für die Blumen. Wo finde ich eigentlich Papa?“
„Er hat sich mit zwei seiner Kollegen in den Salon zurückgezogen. Dein Vater kann die Fachsimpelei einfach nicht lassen.“ Frustriert rollte Evelin die Augen.
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