Ständig erschien vor ihrem geistigen Auge eine überdimensionale Vierzig, die bedrohlich auf sie zuraste. Besorgt registrierte sie die ersten tieferen Fältchen um die Augenpartie und vereinzelte graue Haare im Schläfenbereich. Nein, sie war keine eitle Person, ganz im Gegenteil. Aber dieses verdammt laute Ticken der verflixten inneren Uhr.
Maria setzte sich ihr gegenüber. „Oh, Sie sehen so traurig aus. Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf?“, fragte sie mit ehrlicher Anteilnahme in ihrer Stimme.
„Ach Maria, Sie können sich mit ihren drei Enkeln wirklich glücklich schätzen und Sie haben meinen aufrichtigen Neid. Sie wissen ja, die innere Uhr.“
„Wenn Sie rund um die Uhr arbeiten, finden Sie nie einen passenden Mann. Sie müssen kürzer treten oder sich eine längere Pause gönnen. Sie haben genug Geld und sind nicht auf das Gehalt angewiesen. Fahren Sie in den Urlaub oder machen Sie eine Kreuzfahrt, vielleicht finden Sie dort die große Liebe.“
„Danke für Ihren Zuspruch, Maria, ich werde darüber nachdenken.“ Sie biss herzhaft in den knusprigen Toast und auch der starke Kaffee weckte ihre verschollen geglaubten Lebensgeister.
Maria hantierte inzwischen eifrig mit dem Wischmopp, obwohl der Fußboden glänzte. In ihrer Fantasie sah Katharina Spielzeug auf dem Boden herumliegen und schmutzige Fußabdrücke von Kinderschuhen. Bevor diese Gedanken sie seelisch noch tiefer herunterzogen, stoppte sie die Flut der Bilder in ihrem Kopf. Ihr Ego konnte in Sachen Beziehung keine weiteren Tiefschläge mehr verkraften.
„Ich bin jetzt im Arbeitszimmer“, rief sie Maria zu und lief die Treppe nach oben. Der heimische, lichtdurchflutete Arbeitsplatz war modern ausgestattet und ließ keine Wünsche offen. Sie ließ sich auf den Bürostuhl fallen und streckte ihre Beine unter dem Schreibtisch aus.
Dann fuhr sie den Rechner hoch und checkte die Emails. Werbung, Werbung und kein Ende. Pharmareferenten und Firmen bombardierten sie auch privat mit Angeboten. Genervt drückte sie auf Löschen und hätte beinahe eine Mail mit einem russischen Absender im Nirwana versenkt.
Neugierig öffnete sie die Nachricht und übersetzte das fehlerhafte Englisch. Zwei Videos befanden sich im Anhang. Sie speicherte die Mail in einem Ordner ab und beschloss, sich an ihrem freien Wochenende darum zu kümmern. Hin und wieder zog man sie bei schwierigen Patienten zu Rate. Ihren guten Ruf allerdings, den hatte sie sich hart erarbeiten müssen.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie sich so langsam auf den Weg ins St. Josefs Hospital begeben sollte. Erneut lag eine zwölfstündige Schicht vor ihr, aber es nützte ja nichts.
Maria klopfte leise an den Türrahmen. „Ich bin fertig, Frau von Burgstett. Eine warme Mahlzeit befindet sich auf dem Herd und das Haus ist geputzt. Ihnen einen angenehmen Arbeitstag.“
„Vielen Dank Maria, ich weiß Ihre Arbeit sehr zu schätzen.“
Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen und war nun wieder mutterseelenallein in einer viel zu großen Villa. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie die Villa nach dem Tod ihrer Tante übernahm. Mehrmals startete er den Versuch, sie mit dem Architekten, der für den Umbau angeheuert wurde, zu verkuppeln.
Okay, sie war mit diesem gutaussehenden Charmeur im Bett gelandet, doch der wollte alles andere, nur keine Familie gründen. Diese reichen Sonnyboys hatten ein unberechenbares Gemüt und sie konnte schon froh sein, dass er sich überhaupt für eine alternde Sechsunddreißigjährige entschieden hatte - Abenteuer hin oder her.
Die meisten Püppchen dieser ewigen Junggesellen waren blond, besaßen eine voluminöse Oberweite, aufgespritzte Lippen und waren vom geistigen Niveau ziemlich einfach gestrickt: Geld und Ansehen, das reichte fürs Erste.
Jetzt sollte sie aber … Hastig griff sie nach einem Ordner und eilte die Treppe hinunter in den Flur. Schuhe, Jacke, Aktentasche, ab in die Garage und den Motor gestartet. Das Garagentor glitt nach oben und sie trat aufs Gas.
Ein herrlicher Sommertag offenbarte sich ihr und sie hätte nur zu gern dessen Vorzüge genossen. Leider verhinderte ihr täglicher Dienst, dass sie den Luxus eines Sonnenbades auf der großzügig angelegten Terrasse genießen konnte. Schichtdienst, Lehrstuhl, Forschung - alles zwängte sie ein und nahm ihr die Luft zum Atmen. Marias Worte schwirrten in ihrem Hinterkopf: Nehmen Sie sich eine Auszeit.
Eine Fahrt ans Meer wäre geradezu himmlisch - den feuchten Sand unter den nackten Sohlen zu spüren, die endlose Weite genießen und den tosenden Wellen zu lauschen. Warum, in Gottes Namen, gönnte sie sich eigentlich keine Auszeit? Weil ihr Leben bis obenhin mit Arbeit vollgestopft war?
Geschickt manövrierte sie ihren BMW auf den engen Stellplatz des St. Josefs Hospitals und eilte mit schnellen Schritten in ihr Büro. Der diensthabende Stationsleiter scharrte bereits mit den Hufen.
„Der kleine Tim möchte seinen Spaziergang nicht antreten. Er will unbedingt, dass Sie ihn begleiten.“
„Das ist doch aber nicht mein Aufgabenbereich, Andreas. Ich kann doch nicht auf sämtliche Sonderwünsche aller Patienten eingehen. Nachher muss ich auch noch in die Forensik. Das Gutachten für die drogenabhängige Frau Wagner muss in Kürze beim Staatsanwalt vorliegen.“
„Machen Sie eine Ausnahme, bitte.“ Andreas warf ihr einen treuherzigen Blick zu.
„Wo finde ich Tim?“
„Er schläft im Aufenthaltsraum am Tisch.“
Sie schnalzte kurz mit der Zunge, machte auf dem Absatz kehrt und lief den Flur entlang. Tim hatte seinen Oberkörper auf den Tisch gelegt und schlief tatsächlich tief und fest. Ihm wurden vor zwei Tagen Beruhigungsmittel verabreicht, da sich sein Zustand verschlimmert hatte.
Der zehnjährige, autistische Junge war ihr sehr ans Herz gewachsen. Obwohl er in seiner eigenen Welt lebte, ließ er Katharina manchmal hinein und öffnete sich. Sein dunkelblonder Strubbelkopf und die zierliche Gestalt weckten ihre Mutterinstinkte. Am liebsten hätte sie den Jungen vom Fleck weg adoptiert.
Seine Mutter war mit dem verschlossenen Jungen total überfordert. Ihr fiel es schwer zu begreifen, warum Tim nicht mit ihr kommunizieren wollte oder konnte. Sie hielt ihn für einen verstockten, bösartigen Jungen und ihr rutschte mehr als einmal die Hand aus. Den Vater schien das Ganze wenig zu interessieren.
Das Jugendamt sorgte mit dem Einverständnis der Eltern dafür, dass Tim in das Hospital eingewiesen wurde und er lebte jetzt in einer gemischten Gruppe mit verschiedenen Altersstufen. Wenn ihm der Stress auf der Station zu viel wurde, dann schlug sich dieser äußerst sensible Junge ununterbrochen auf sein rechtes Ohr. Innerhalb kürzester Zeit fing es dann an zu bluten und Tim wurden ruhigstellende Mittel verabreicht.
Katharina hockte sich neben Tim und streichelte liebevoll über sein kurzes Haar. „Aufwachen, mein Kleiner. Dort draußen scheint die Sonne und du möchtest doch bestimmt im Park die Schmetterlinge beobachten. Hab ich Recht?“
Tim grunzte leise und stieß sie weg. „Komm schon, lass mich nicht warten.“ Sie erhob sich, griff Tim behutsam unter die Arme und richtete ihn auf. Dann ließ sie den Jungen sofort los, denn er mochte keinerlei Berührungen.
Gestresst fing Tim sofort damit an, mit der flachen Hand mehrmals auf sein Ohr zu schlagen. Ihre Finger schnellten nach vorn, umfassten sanft Tims Unterarm und bewusst lenkte sie seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.
„Hast du am Fenster den großen Schmetterling gesehen? Lass uns schnell nach draußen gehen, vielleicht entdecken wir ihn auf einer Blume.“
Beharrlich schob sie Tim zur Tür hinaus und bugsierte ihn zu einer Bank neben einer Blumenrabatte. Dort flatterten Kohlweißlinge um die blauen Lavendelblüten und fasziniert beobachte der Junge die Insekten.
„Du bist ein Schatz, Tim, aber ich muss wieder an die Arbeit.“ Mit wehendem Kittel hastete sie zurück in ihr Büro.
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