Familie Schulze wartete bereits ungeduldig, das konnte sie deutlich von den Mienen der Eltern ablesen. Deren Tochter Jessica, ihre Patientin, hockte auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch, schnaufte wie ein Walross und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück.
Die geistige und körperliche Förderung ihres einzigen Kindes lag dem Ehepaar sehr am Herzen. Für die Eltern stand Außerfrage, ihr geliebtes Mädchen einfach abzuschieben und mit tiefem Bedauern dachte Katharina an Tim.
Kurz und knapp schilderte Katharina weitere Möglichkeiten für Jessica und das Ehepaar saugte die Informationen auf wie ein Schwamm. Jessica hingegen war mit der Situation völlig überfordert. Die lauten Schreie der Patienten im Flurbereich irritierten und verunsicherten sie zutiefst. Hektisch sprang sie auf, hüpfte durch den engen Raum und drehte sich Kreis.
Nach etwa fünf Minuten hatte das siebzehnjährige, mollige Mädchen ihre überschüssige Energie abgebaut, setzte sich wieder auf den Stuhl und wiegte sich im gewohnten Rhythmus. Katharina bewunderte Jessicas Eltern, mit welcher Ruhe und Gelassenheit sie die Tochter gewähren ließen. Da hatte sie schon ganz andere Fälle erlebt. Nach einer halben Stunde war das Gespräch beendet und alle Beteiligten atmeten auf.
Jetzt stand der Termin mit Frau Wagner in der Forensik auf dem Programm. Obwohl Katharinas Fach- und Forschungsgebiet sämtliche Formen des Autismus beinhaltete, betreute sie auch andere Fachbereiche. Die Psychologie hatte sie schon immer fasziniert, vor allen Dingen, welche Wirrungen ein menschlicher Geist nehmen konnte.
Während sie sich rasch eine Tasse Kaffee gönnte, dachte sie mit Unbehagen daran zurück, unter welch Grausamkeiten diesen kranken Menschen teilweise zu leiden hatten: Im dritten Reich ohne Rücksicht auf Verluste gnadenlos euthanasiert, verstörenden Elektroschocktherapien ausgesetzt und vom Exorzismus ganz zu schweigen. In vielen Heimen wie Vieh gehalten, vegetierten diese armen Seelen bis zum Lebensende vor sich hin. Die Rechte und Bedürfnisse dieser Menschen wurden mit Füßen getreten, teilweise auch heute noch.
So, jetzt musste sie sich aber sputen. Erneut eilte sie über die Flure, schloss Türen auf und wieder zu. Obwohl die staatlichen Gelder an allen Ecken und Enden fehlten, waren die Patienten trotzdem gut untergebracht. Helle, recht freundliche Zimmer, warmes Essen und eine Betreuung rund um die Uhr, soweit möglich. Einzig die Gitter vor den Fenstern störten die Idylle und nahmen den Räumen das Heimelige.
Der Fachkräftemangel machte allen zu schaffen, aber das stand auf einem anderen Blatt.
Sie schloss die Tür zur Forensik auf und schritt auch hier an den Einzelzimmern mit den Monitoren vorbei. Hier befanden sich Patienten, die als besonders aggressiv galten. Rund um die Uhr wurden sie überwacht und die Zimmertüren blieben verschlossen.
Frau Wagner saß schon vor dem Sprechzimmer und wirkte sehr nervös. Im Drogenrausch hatte sie auf ihren Lebensgefährten eingestochen und sollte nach einer langen Therapie entlassen werden. Täglich machte sie von ihrem Freigang Gebrauch, um sich wieder an die Welt vor den Toren der Psychiatrie zu gewöhnen.
Katharina führte mit ihr ein längeres Abschlussgespräch. Es war gar nicht so leicht, für diese Patienten. Für die erste Zeit mussten sie bei Freuden oder der Familie unterkommen, um sich dann eine Wohnung und später auch Arbeit zu suchen. Es würde schwer werden und die meisten Patienten griffen bereits während dieser Zeit erneut zu den Drogen.
Nach erfolgtem Gespräch eilte sie zurück in ihren Fachbereich. Zwei Neuaufnahmen, weitere Gespräche und Untersuchungen standen auf dem Programm. Nur mit einem straffen Zeitplan war die tägliche Arbeit zu bewältigen. Ausgebildete Pflegekräfte fehlten an allen Stellen. Viele Mitarbeiter hielten der psychische Belastung nicht stand und wanderten ab.
Auf allen Stationen herrschte eine ziemlich hohe Fluktuation, sehr zum Leidwesen der meisten Insassen, die feste Bezugspersonen benötigten. Hier war eindeutig Vater Staat gefragt …
Endlich war ihr Spätdienst vorüber und total übermüdet überquerte sie den Parkplatz. Ihre Schritte hallten durch die milde Nacht und sie freute sich auf die zwei freien Tage. Wie üblich hatte sie sich viel vorgenommen: Sauna, Joggen, Treffen mit Freunden, aber meist scheiterte es an der Umsetzung.
Abgespannt und überarbeitet lümmelte sie fast den ganzen Tag auf der Couch, las viel oder surfte im Internet. Manchmal schaffte sie es auch bis zur Terrasse und sonnte sich. Aber mehr war einfach nicht drin. Sie hasste ihren inneren Schweinehund, der seinen Trotzkopf immer wieder durchsetzte. Glücklicherweise blieb das ihren Patienten verborgen, denen sie ganz andere Dinge predigte.
Ihre Eltern hatten sie außerdem zu einer zünftigen Grillparty eingeladen, natürlich mit einem großen Anteil potentieller Junggesellen. Schon bei dem Gedanken an die gekünstelte Konversation bekam sie Magengrummeln. Immerhin konnte sie sich als Ärztin selbst krankschreiben, na wenn das kein Vorteil war.
Gähnend lenkte sie den Wagen in die Garage und lief erschöpft ins Haus. Aktentasche, Jacke und Schuhe ließ sie achtlos im Flur liegen und steuerte die Küche an. Das kalte Essen klatschte sie lieblos auf einen Teller und aß einige Bissen.
Dieser ewige Schichtdienst zehrte an ihren Kräften. Früher hatte ihr das wenig Sorgen bereitet, aber mit zunehmendem Alter … Verdammt, nicht schon wieder dieses Thema! Verärgert kniff sie ihre Lippen zusammen und stellte den halbvollen Teller auf den Tresen.
Seufzend trottete sie ins Badezimmer und putzte sich die Zähne. Morgen würde sie sich ein Bad gönnen, mit Rosenöl und ganz viel Zeit. Im Schlafzimmer ließ sie ihre Kleidung auf dem Boden liegen und kroch unter die Bettdecke. Wohlig grummelnd streckte sie sich aus und es dauerte nur wenige Minuten, bis sie eingeschlafen war.
Die Sonne stand bereits hoch am Horizont, als sie blinzelnd die Augen öffnete. Ihr Rücken tat zwar vom langen Liegen weh, aber es war einfach himmlisch, wieder einmal so richtig auszuschlafen. Das einzig Unfaire daran - ein halber freier Tag war inzwischen verstrichen.
Maria hatte ebenfalls frei und so bereitete sie sich selbst das Frühstück zu. Die Reste der gestrigen Mahlzeit warf sie weg und steckte den Teller in den Geschirrspüler. Die Kaffeemaschine summte leise vor sich hin, während sie das Rührei in der Pfanne wendete. Mit dem vollen Tablett balancierte sie ins Arbeitszimmer hinauf und stellte es neben dem Laptop ab. Während das Gerät hochfuhr, nippte sie am heißen Kaffee und löffelte das Rührei.
Bis auf reichlich Werbung blieb ihr Mailpostfach leer, sehr zu ihrem Bedauern. Ihre beste Freundin war seit kurzem frisch verliebt und meldete sich kaum noch. Sie gönnte Laura das Glück von Herzen, fühlte sich aber dadurch noch einsamer. Der anstrengende Job ließ leider wenig Freiraum und sie zog sich eindeutig zu sehr zurück. Wie sollte sie neue Bekanntschaften schließen, wenn sie sich in ihrer Villa verschanzte?
Sie erinnerte sich an die gestrige Mail aus Russland und öffnete diese erneut. Kopfschüttelnd las sie sich die Zeilen noch einmal durch und warf dann einen Blick auf das Video. Verstörende Bilder reihten sich aneinander und sie stoppte die Aufzeichnung. Der Appetit war ihr restlos vergangen, aber ein Schluck heißer Kaffee kam gerade recht.
Widerholt klickte sie auf Play und starrte die Aufnahme an. Das Video dauerte nur eine knappe Minute. Ein Kollege musste sie hier gehörig zum Narren halten, anders konnte sie sich die Umstände in nicht erklären.
In einer dunklen Zelle, bestückt mit einer Toilettenschüssel und einem Metallbett samt Matratze, hockte ein magerer Mann. Nur mit einem dünnen OP-Hemdchen bekleidet, sprang er durch den Raum, trommelte an die Wände und schrie wie besessen. Seltsamerweise störten die Schreie des Mannes die Aufnahmequalität der Kamera.
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