Die Kitaja stoppte sehr schnell ab und lag wie ein fetter Wal bei dreißigtausend Fuß in der unendlichen Dunkelheit. Während Jorik die Ergebnisse der Stationen überprüfte, drehte Cosco das Boot einmal im Kreis.
Urplötzlich tauchte direkt neben ihnen eine gewaltige Felswand auf, die ersten Ausläufer der Atharathi-Senke. Wenige hundert Meter unterhalb konnten sie eine Kante in der Felswand sehen, auf der das Wrack eines riesigen Tankschiffes seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Das gesamte Schiff schien noch intakt zu sein, lediglich ein gewaltiges Loch in der vorderen Schiffswand zollte von dem tragischen Unglück, das sich gut sechs Meilen über ihnen ereignet haben mochte.
„Die Mirilaja !“ sagte Tagh beim Blick auf den Schiffsnamen.
„Im Sturm gesunken vor über zwanzig Zyklen!“ erwiderte Cosco. „Siebzig Mann Besatzung und 1 Millionen Tonnen Rohöl verschlungen vom...!“ Weiter kam er nicht.
Wie aus dem Nichts heraus, löste sich oberhalb des Tankschiffes eine Art riesiger Rochen von der Felswand und steuerte auf sie zu. Seine Spannweite betrug locker dreißig Meter, die grünen Augen leuchteten gespenstisch in der Dunkelheit.
Das Tier gewann schnell an Höhe und schoss nur Sekunden später in atemberaubender Geschwindigkeit über sie hinweg. Dabei konnten sie das riesige Maul auf dem schneeweißen Unterleib deutlich erkennen.
Wieder nur eine Sekunde später ertönte die Alarmglocke, als das Boot durch die immensen Flügelschläge des Tieres aus der Position getrieben wurde.
„Achtung. Boot bricht aus!“ rief Cosco und hatte ein wenig Mühe, die Kitaja wieder unter Kontrolle zu bringen.
Nachdem er das geschafft hatte, war auch Jorik mit seiner Prüfung fertig.
„Okay, Leute, es wird Zeit, das wir Ernst machen! Captain, steuern sie direkt in die Atharathi-Senke. Gehen sie auf sechzigtausend Fuß bei siebzig Grad vorlastig und erhöhen sie die Geschwindigkeit auf vierhundert Meilen!“
Cosco atmete einmal tief durch, bevor er den Befehl bestätigte. „Aye! Sechzigtausend Fuß, siebzig Grad vorlastig. Geschwindigkeit vierhundert Meilen!“
Die Kitaja kippte eine Sekunde später förmlich über den Bug hinweg in die Tiefe. Die Scheinwerfer schossen an der Felswand entlang und machten fast jede direkte Wahrnehmung unmöglich.
Jorik ließ die Instrumente keinen Moment mehr aus den Augen. Das Boot erfuhr jetzt eine extrem hohe Belastung durch den immens schnellen Tauchgang und da galt es, auch kleinste Veränderungen so schnell wie möglich zu erkennen.
Aber es gab auch diesmal keinen Grund zur Panik. Das gesamte Boot verhielt sich nach wie vor einwandfrei.
„Vierundfünfzigtausend Fuß!“ sagte Cosco mit einem Mal. „Herrschaften, wir sind so tief, wie nie ein Mensch vor uns!“
Für eine Sekunde herrschte absolute Stille im Boot.
„Boot bei sechzigtausend Fuß!“ sagte Cosco schließlich.
„Drosseln sie die Geschwindigkeit auf hundertfünfzig Meilen, Captain und pendeln sie das Boot bei zwölf Grad vorlastig aus. Bringen sie uns schön sanft an den Rand der Parygi-Spalte!“
„Aye! Geschwindigkeit 150 Meilen. Zwölf Grad vorlastig!“
Wieder war die Verringerung der Geschwindigkeit deutlich zu spüren, als sich das Flugboot aufrichtete.
„Fünfundsechzigtausend Fuß!“ sagte Tagh langsam und sehr betont und schaute leicht besorgt zu Cosco, der ihm jedoch beruhigend zuzwinkerte.
„Siebzigtausend Fuß!“ wieder sehr langsam und sehr betont.
Unter ihnen tauchte urplötzlich eine Felsformation auf, eine Art Graben von gut einer Meile Durchmesser, an deren Seiten sich der Fels nach oben gewölbt hatte.
„Captain! Drosseln sie das Boot auf Manövriergeschwindigkeit und bringen sie uns schön sanft auf den Boden der Spalte!“ sagte Jorik.
Cosco tat, wie ihm befohlen wurde. Die Kitaja schwebte langsam dem Grund des Meeres entgegen, während sich die Wände der Parygi-Spalte wie zwei riesige flache Hände neben ihnen auftürmten, scheinbar bereit, sie jederzeit sie zerquetschen.
Noch einmal verringerte das Boot seine Geschwindigkeit und Tagh fuhr das Landegestell aus, bevor es endgültig komplett abbremste und im nächsten Moment mit einem dumpfen Ton und einem leichten Rütteln auf dem Felsgestein am Grunde der Spalte aufsetzte.
Tagh schaute mit großen Augen auf den Tiefenmesser. „Touchdown bei 71.234 Fuß!“ Er war tief beeindruckt und seine Stimme klang majestätisch.
„Alle Systeme prüfen!“ sagte Jorik und bekam wieder von allen Stationen grünes Licht. Zufrieden nickte er. „Die Belastung der Hülle liegt erst bei zweiundneunzig Prozent, Captain! Wenn sie noch ein tieferes Loch finden würden, würde die Kitaja das auch noch mitmachen!“
Cosco sah ihn ebenfalls beeindruckt an, schüttelte aber den Kopf. „Dies ist definitiv die tiefste Stelle auf unserem Planeten. Ich gratuliere Ihnen. Sie werden ein Held sein, wenn wir wieder zuhause sind!“
Jorik lächelte breit. „Hast du das gehört, Shim. Ich werde bald Präsident!“
„Pah!“ Shim grinste breit, dann bekam sein Gesicht jedoch einen ernsten Ausdruck. „Du bist ein echter Teufelskerl Jorik!“
„Nein!“ Jorik schüttelte den Kopf. „Das hab ich nicht allein geschafft. Das war der Verdienst einer ganzen Gruppe. Das gibt eine Woche Dauersaufen, einen langen Urlaub und eine deftige Gehaltserhöhung, das Imrix der Arsch erst richtig blutet!“
„Jorik?“ sagte plötzlich Tagh und schaute angestrengt auf sein Sonargerät.
Doch Jorik reagierte nicht auf ihn.
„Jorik!“ sagte er deshalb noch einmal und diesmal lauter.
„Was gibt es Tagh?“ Diesmal reagierte er.
„Ich habe etwas auf meinem Sonar! Etwas Großes...! Riesiges! Es kommt direkt auf uns zu!“
„Wo?“ rief Jorik sofort.
„Von Steuerbord. Und es ist irre schnell!“ rief auch Tagh in seiner Anspannung.
Doch keinem blieb genug Zeit zum Handeln. In der nächsten Sekunde verdunkelte sich über ihnen das Scheinwerferlicht und ein riesiger Körper schob sich dicht über die Parygi-Spalte und die Kitaja hinweg, glänzte dabei silbern auf.
Ein tiefer, langer, gewaltiger Schrei ertönte, ging allen durch Mark und Bein, bevor der Körper vollständig über sie hinweg gestrichen war.
Bevor das jedoch irgendjemand registrieren konnte, wurde die Kitaja mit einem Mal von einem irrsinnigen Strudel erfasst, der sie sofort einen Meter zur Seite warf. Fast augenblicklich begann der Boden unter ihnen zu Beben.
„Notaufstieg!“ rief Jorik sofort und Cosco agierte blitzschnell.
Er fing das Boot ab, bevor es auf die Seite kippen konnte, beschleunigte es, um es zu stabilisieren und sie entgingen nur knapp einem Steinschlag vom Rand der Spalte.
Die Kitaja jagte aus der Spalte hinaus und gewann schnell an Geschwindigkeit. Unvermittelt tauchte vor ihnen der Auslöser für ihre Zwangslage auf. Es war ein riesiges Wal-ähnliches Lebewesen, das gemächlich mit der Schwanzflosse in diesen Untiefen seine Bahnen zog.
Cosco lenkte das Flugboot neben den gewaltigen Körper, um nicht wieder davon erwischt zu werden.
„Verdammt, ist der riesig!“ entfuhr es ihm erstaunt und er schätzte die Länge dieses Tieres auf mindestens einhundert Meter. Im selben Moment hatten sie das Maul des Wales erreicht, als er es plötzlich unvermittelt aufriss.
Alle Insassen des Bootes mussten schreien, als sie die gewaltigen, rasiermesserscharfen Zähne erblickten, die sich auf sie zuschoben.
Kurz bevor die Kitaja von den gewaltigen Kiefern zermalmt worden wäre, senkte sich der Wal plötzlich ruckartig in Richtung Meeresgrund und schnappte zu. Jorik konnte unter sich erkennen, wie ein weiteres Lebewesen, vielleicht fünfzig Meter lang und eine Art Schlange, von dem Wal angegriffen wurde. Schonungslos umschloss sein Kiefer den Laib und drückte kräftig zu. Ein markerschütternder Schrei in hoher Tonlage riss augenblicklich an ihren Ohren.
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