Hato trat in die Türöffnung.
Corvu stöhnte leise vor Anstrengung und Hato wandte sich noch einmal zu ihm um. Mist. Hatte er es gehört? „Ach so, ehe ich es vergesse, brauchst du noch Licht?“, fragte er.
„Nein!“, knurrte Corvu. „Es ist Nachtzeit. Schlafenszeit. Welcher Idiot bestellt sich denn da Licht in sein Zimmer?“
Die kleine Lawine löste sich bei seinem unbedachten Ausraster und etliche Kiesel rieselten auf den Boden. Hoffentlich hatte Hato es nicht gehört.
Doch der schien nichts bemerkt zu haben.
Er blickte lediglich auf Corvu hinab. „Ich weiss, dass ihr euch nie und nimmer freiwillig ergeben würdet. Ihr plant irgendwas, nicht wahr?“, murmelte er leise. „Ihr alle vier. Mit dem blinden Mädchen und Meister Fayn.“
Ein Grinsen breitete sich auf Corvus Gesicht auf. „Du bist wohl nicht ohne Grund Kommandant geworden.“, lachte er, ein weiteres Rasseln in der Ecke übertönend.
Hato zog die Tür hinter sich zu. „Wir sehen morgen weiter.“, kündete er an.
„Das tun wir!“, rief ihm Corvu hinterher.
Endlich fiel die Tür ins Schloss. Beim Klicken des ersten Schlosses, fiel der Stein samt Mörtel aus der Öffnung scheppernd auf den Boden. Beim zweiten Klicken lag auch Corvu am Boden. Er atmete schwer. Das erste Mal überhaupt hat er ohne Hilfe der Hände oder Beine Energie und Gedanken gebündelt! Er war zu Tode erschöpft. Er musste sich erst einmal ausruhen und stärken, bevor er weitermachen konnte.
Corvu wurde mulmig zumute, wenn er daran dachte, was er noch alles vor sich hatte. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er es schaffen kann.
Fayn stolzierte die weisse Marmortreppe hoch. Der Plan war gut. Er musste einfach funktionieren! Er musste nur richtig auftreten, um nicht gleich von Anfang an abgewiesen zu werden. Er hoffte nur, die Herrschaften da oben seien etwas offen für Neues und nicht einfach nur sture alte Männer, die keine Änderung in Elysstain billigen wollen.
Der junge Edelmann erreichte den Eingang des schlichten Palastes, wo er von einem Wachmann nach möglichen Waffen untersucht wurde. Rosendorn, sein Schwert, hatte er, genau wie seinen Beutel bei Lilith gelassen.
Einer der uniformierten Palastwachen führte Fayn weiter in eine grosse Säulenhalle aus dem gleichen weissen Marmor wie die Treppe davor. An den Wänden links und rechts hingen die blauen Elysstainer Flaggen auf denen ein goldener Dreimaster aufgestickt war.
Fayn blinzelte sich unterwegs den Schlaf aus den Augen. Es war eine kurze Nacht gewesen. Erst musste er ein paar Dinge in dem Buch nachschlagen und später konnte er auf der unbequemen Bank nicht richtig einschlafen. Ausserdem ging er wieder und wieder das bevorstehende Gespräch durch. Wenigstens tauchten keine Schläger auf, die sie ausrauben wollten.
Der Soldat blieb vor einer der vielen Holztüren, die vom Saal wegführten, stehen. Sie wurde von zwei anderen schwer gerüsteten Wachen flankiert. Einer von ihnen klopfte drei Mal an die Türe.
Sie warteten eine Weile. „Es ist gestattet.“, ertönte es dann durch die Tür hindurch und der Soldat trat ein. „Weiser Rat von Elysstain, Meister Fayn vom Biatali-Klan bittet um ein Vorsprechen.“, kündigte ihn der Wachmann lautstark an.
Fayn atmete tief durch. Dann betrat er erhobenen Hauptes den überraschend kleinen Raum. Es war nicht das erste Mal, dass Fayn vor den im Halbkreis aufgestellten Tischen stand und von den ernst dreinblickenden Männern und Frauen beäugt wurde. Aber früher stand immer sein Vater an seiner Seite. Diesmal war er ganz allein. Die Männer und Frauen vor ihm erschienen ihm wie eine riesige Bergkette, deren Hügelkuppen er eine nach der anderen bezwingen musste. Fayn fühlte sich plötzlich klein und hilflos. Seine Aufregung stieg und er fing an wieder an seinem Vorhaben zu zweifeln.
„Oh, der junge Biatali!“, begrüsste ihn ein Mann mit Glatze und lustigem Walross-Schnurrbart. Es war der Stadtratsvorsitzende. „Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen?“
Fayn riss sich zusammen. Er kannte diese Menschen. Etliche Male hatte er gesehen, wie sein Vater mit ihnen umgegangen war. Er konnte das auch. Er war vorbereitet. Er brauchte keine Angst vor diesen alten Leuten zu haben.
Er räusperte sich.
„Sehr geehrter Ratsvorsitzender, geehrter Rat Elysstains. Verzeiht mir mein unangemeldetes Erscheinen zu so früher Morgenstunde.“, begann er höflich.
„Aber in der letzten Nacht konnte ich nicht richtig schlafen. Ein Gedanke, der mir am Abend kam und sich in mein Herzen frass, plagte mich.
Ihr seid sicher darüber informiert worden, wie die zwei Meisterdiebe Oshu und Corvu verhaftet und in den Kerker geworfen worden sind.“
Der schnurrbärtige Mann nickte. „Soweit mir berichtet worden wurde, ward Ihr in die Sache involviert.“, sinnierte er anerkennend.
„Das stimmt so nicht ganz, mein Herr.“, widersprach Fayn. Er blickte in die runzligen Gesichter, die alle ihm zugewandt waren und ihm aufmerksam lauschten.
„Tatsächlich war es eine … Freundin, die die Beiden überzeugt hatte sich freiwillig zu stellen. Es war lediglich meine Idee gewesen, weiter habe ich nichts getan. Von dem her gebührt der Dank ihr und nicht mir.“, erklärte Fayn dem Rat bescheiden. „Sie hat nämlich gewisse Fähigkeiten der Gedankenbeeinflussung.“, log er. Und als sie mich von weit her besuchen kam und mir einige Beispiele ihrer Kunst vorführte, kam mir die Idee, dass wir auf diesem Weg ein scheinbar ewig währendes Problem Elysstains lösen könnten.“
Der Ratsvorsitzende strich sich über den Schnurrbart und nickte anerkennend. „Da habt Ihr Recht gedacht. In Elysstain gibt es viel Gesindel, das für Ärger sorgt. Die Beiden gehörten mit zu den Schlimmsten, wenn sie nicht sogar die Schlimmsten waren. Der Kommandant der Marktwache meldete mir immer wieder Vorfälle mit diesem Corvu. Und der Schatten , nun da stimmen wir wohl alle überein, dass er womöglich der mysteriöseste unter ihnen allen ist.
Die Beiden hinter Gitter gebracht zu haben, wird der Marktwache und der Stadtwache die Arbeit enorm erleichtern und sie können sich um das übrige Gesindel kümmern.
Aber ich fürchte, ich verstehe Eure Beklemmnis nicht ganz, Meister Fayn. Erklärt uns doch was Euch den Schlaf geraubt hat.“
Fayn atmete tief durch. Soweit so gut. Jetzt musste er zum Angriff übergehen. Wenn sein Plan aufgehen sollte, mussten die Beiden bereits getürmt sein. Fayn hoffte nur, dass Oshu es geschafft hatte Corvu zu befreien.
„Nun, der Schatten ist es, der mir Sorgen bereitet. Er ist berüchtigt dafür überall hinein und wieder hinaus schleichen zu können ohne bemerkt zu werden. Haltet Ihr es nicht für töricht, jemanden mit solchen Fähigkeiten einsperren zu wollen? Die Gedankenmanipulation meiner Freundin hält nicht ewig an. Und ich befürchte, sobald der Schatten wieder selbstständig denken kann, wird er in Nullkommanichts wieder frei sein. Und ich würde mich nicht wundern, wenn er seinen Freund mit sich nehmen wird.“
Fayn machte eine Pause, um die Reaktionen auf den alten, furchigen Gesichtern zu überprüfen.
Die Ratsmitglieder tauschten Blicke aus, es wurde getuschelt, mit den Schultern gezuckt, zustimmend genickt oder verständnislos den Kopf geschüttelt.
„Der Junge hat nicht unrecht.“, bemerkte dann eine dickliche Frau mit hochgesteckter Frisur. Einige Köpfe nickten zu ihren Worten, was Fayns Herzen mit Hoffnung füllte.
„Pah, aus unseren Gefängnissen sind noch nicht viele ausgebrochen. Zu viele Männer haben wir dort, zu dicke Mauern. Eine Flucht ist fast unmöglich.“, meldete ein drahtiger Mann mit buschigen Augenbrauen selbstsicher.
„Ich weiss nicht.“, überlegte ein anderer und strich sich über den weissen Bart. „Wenn er tatsächlich einer von ihnen ist, werden ihn rostige Ketten und Steinwände nicht lange aufhalten.“
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